Die Geschehnisse im Nahen Osten halten die Welt in Atem. Der Konflikt, der seit Jahrzehnten andauert, ist erneut entflammt – und polarisiert mehr denn je. Weltweit gehen Tausende Menschen auf die Strassen.
Die meisten von ihnen solidarisieren sich dabei mit Palästina. Das Ausmass der Demos ist enorm. So tauchten beispielsweise am Donnerstagabend in Lausanne rund 4500 Teilnehmer statt den erwarteten 1000 Teilnehmer an einer Kundgebung auf. Während in der Schweiz die meisten Demos friedlich verlaufen, kommt es in Städten im Ausland zu schweren Ausschreitungen.
Doch weshalb demonstrieren derart viele Menschen für Palästina und wer sind überhaupt die Menschen, die an solchen Kundgebungen mitmarschieren? Blick hat bei den Nahost-Experten Mustafa Nasar der Universität Basel und Andreas Böhm, Nahost-Experte der Universität St. Gallen, nachgefragt.
Wieso bekunden so viele Leute Solidarität für Palästina?
«Die Israelis haben in Hinblick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina bei manchen eher einen negativen Ruf», sagt Mustafa Nasar, Assistent am Seminar für Nahoststudien, zu Blick. Grund dafür seien die seit Jahren ungleichmässigen Verhältnisse zwischen den beiden Ländern. «Palästina wurde jahrzehntelang von der Besatzungsmacht Israel unterdrückt. Dass nun ausgerechnet die Israelis als Opfer dargestellt werden, löst bei vielen Frust aus», so Nasar.
Die Ungleichheit sei auch der Grund dafür, dass sich viele mit Palästina solidarisieren und auf die Strasse gehen. Die enorme Menge erklärt sich der Nahost-Experte damit, dass viele Menschen den Konflikt seit Jahrzehnten aktiv mitverfolgen – und die Gemüter deshalb immer wieder aufs Neue erhitzt werden.
Experte Andreas Böhm weist zudem darauf hin, dass der Begriff strukturelle Diskriminierung eine grosse Rolle spielt. «Vergleichbare Phänomene konnte man bereits bei Bewegungen wie «Black Lives Matter» oder #MeToo ebenfalls beobachten. Bei all diesen Erscheinungen steht Diskriminierung im Vordergrund.» Dementsprechend seien die Themen emotional aufgeladen.
Welche Menschen gehen auf die Strasse?
Nasar spricht bei den Demo-Teilnehmenden von einem «sehr bunten Haufen». So seien an den Kundgebungen neben Menschen, die sich für den Konflikt interessieren und ihre Solidarität bekunden wollen, auch Akademiker, Medienschaffende oder religiöse Menschen anzutreffen.
Besonders bei Letzterem sei das Spektrum gross. «Neben Christen und Muslimen gibt es durchaus auch Juden, die für Palästina protestieren. Ein Beispiel dafür sind die Mitglieder der «Jewish Voice for Peace» (zu Deutsch: Jüdische Stimme für Frieden), die am Mittwoch in Washington lautstark einen Waffenstillstand forderten», so Nasar. Der Experte betont aber, dass man nicht sagen kann, dass Muslime aus allen Ländern für Palästina demonstrieren.
Ebenfalls nicht haltbar wäre die Behauptung, dass es sich bei den Demonstranten ausschliesslich um links-orientierte Menschen handelt. «Vor allem bei den Kundgebungen in Genf ist das politische Spektrum aufgrund der zahlreichen humanitären Organisationen vor Ort sehr breit.»
Auch Trittbrettfahrer sind an den Demos anzutreffen
Böhm sieht zudem je nach Land einen Unterschied bei den Demo-Teilnehmern. «So handelt es sich bei den Demonstranten in Frankreich häufig um Menschen aus den ehemaligen Kolonien in Nordafrika, die sich selbst diskriminiert fühlen.» Da dort bei vielen ein engerer Bezug zur arabischen Welt besteht, sei das Eskalierungspotenzial auch viel höher.
Doch nicht nur in Frankreich – auch in Deutschland droht die Situation zu eskalieren. So ist es bereits in Berlin diese Woche bei einer Pro-Palästina-Demo zu schweren Ausschreitungen gekommen.
Laut «Tagesspiegel» habe es sich bei den Teilnehmern um eine «Mischszene» gehandelt. So hätten sich neben aktenkundigen Islamisten auch Heranwachsende, die bisher kaum aufgefallen waren, unter den Protestierenden befunden. Viele von ihnen seien arbeitslos und hätten deshalb auch viel Zeit, um an solchen Kundgebungen teilzunehmen.
Ein Beamter aus der Sicherheitsbehörde fasste es folgendermassen zusammen: «Ein Mix aus justizerfahrenen Islamisten, gewaltgeneigten Jugendlichen und immer noch zahlreichen, zumeist verständnisvollen Vertretern aus der Zivilgesellschaft macht es uns so schwer.»
Experte Nasar zeigt sich darüber wenig überrascht. Deutschland befände sich aufgrund seiner Vergangenheit mit Hitler in einer schwierigen Lage. «Die Deutschen fühlen sich den Juden und Israel verpflichtet – gleichzeitig haben sie eine grosse Diaspora von Palästina, Libanon und Syrien. Das führt natürlich zu Spannungen.»
Auch die Motive der Demo-Teilnehmenden unterscheiden sich Nasar zufolge. «Ein Grossteil der Demonstranten geht aus Überzeugung auf die Strasse. Trotzdem hat es auch einige Trittbrettfahrer darunter, die sich gar nicht richtig positionieren wollen.»
Wieso ist die Bewegung in der Schweiz vergleichsweise klein?
Beiden Experten zufolge ist das ganz klar auf den Schweizer Kontext zurückzuführen. «Der Bezug zum Nahen Osten ist bei uns viel weniger da», so Böhm. Grossbritannien oder Frankreich seien durch ihre koloniale Vergangenheit wesentlich mehr vorbelastet, was den ganzen Konflikt angeht.
Die Schweiz dagegen ist Nasar zufolge kaum kontrovers mit dem Nahen Osten verflochten. Dies habe zur Folge, dass sie sich in Bezug auf den Konflikt nicht positionieren muss. Dadurch werde weder Israel noch Palästina für die politische Agenda instrumentalisiert.
Wie gross ist das Eskalationspotenzial dieser Demos?
Nasar der Universität Basel schätzt das Gefahrenpotenzial in der Schweiz nicht gross ein. «Gewalttätige Fronten sind in den letzten Jahren immer mehr in den Hintergrund gerückt.» Zudem seien Pro-Palästina-Demonstrationen nichts Neues. Nichtsdestotrotz dürfe man das Ganze nicht auf die leichte Schulter nehmen: «Gewalttätige Ausschreitungen können immer wieder vorkommen.»
Gab es schon vergleichbare Demos zu anderen Anliegen in letzter Zeit?
«Das extremste Beispiel ist sicher der Tod der jungen Iranerin Mahsa Amini. Ihr Tod hat eine heftige Protestwelle im ganzen Land ausgelöst», so Nasar. Amini vor einem Jahr löste eine Protestwelle im ganzen Land aus. Die junge Frau wurde im September 2022 in Polizeigewahrsam genommen, da sie angeblich gegen die strenge Kleiderordnung der Islamischen Republik verstossen hatte. Man geht davon aus, dass sie von den Polizisten geschlagen und dabei tödlich verletzt wurde. Als weiteres Beispiel nennt Nasar die Wahlen in der Türkei, die im Frühling dieses Jahres heftige Proteste ausgelöst haben.