Tausende Menschen waren in den Süden von Israel gereist, um an einem Festival in der Wüste nahe des Kibbuz Re'im unter freiem Himmel zu feiern. Das Fest fand anlässlich des jüdischen Feiertags Sukkot statt.
Doch am frühen Samstagmorgen kippte die Partystimmung in Todesangst. Als Rave-Musik von Raketen und Sirenen abgelöst wurde. Militante Palästinenser feuerten nicht nur Tausende Raketen aus dem Gaza-Streifen auf Israel, sondern drangen auch auf israelisches Territorium, um Zivilisten zu entführen. Einige der Angreifer sollen sogar per Gleitschirm eingedrungen sein.
Zahlreiche Festival-Besucher fielen den Hamas-Terroristen zum Opfer. Sie wurden von den Extremisten überrascht und schafften es nicht rechtzeitig, sich in Sicherheit zu bringen.
260 Leichen entdeckt
Einen Tag nach dem blutigen Überfall wird klar: Die Situation vor Ort ist deutlich schlimmer als zunächst angenommen. Es wurden nicht nur Besucher entführt, sondern viele von ihnen auch direkt vor Ort getötet.
Wie die Investigativ-Plattform «Osint Defender» auf X, vormals Twitter, unter Berufung auf israelische Quellen schreibt, wurden auf dem Gelände 250 Leichen gefunden. Der Rettungsdienst Zaka bestätigte am späten Sonntagabend sogar 260 Todesopfer. Gemäss Channel 12 haben Freiwillige einer örtlichen Organisation eine Liste mit den Partygästen erstellt. Es seien nach wie vor Dutzende Personen als vermisst gemeldet, so ein Freiwilliger.
«Wir sind stundenlang durchs Gebüsch gerannt»
In den sozialen Medien kursieren Videos, die junge Menschen beim Wegrennen zeigen. Unter ihnen war auch Tal Gibly. «Wir hatten nicht einmal einen Platz, um uns zu verstecken, weil wir uns auf einem offenen Gelände befanden», sagte sie gegenüber «CNN».
«Alle gerieten in Panik und begannen, ihre Sachen zu holen.» Als die Teilnehmer es dann zu den Autos schafften und wegfahren wollten, brach noch mehr Chaos aus. «Die Strassen waren verstopft. Keiner konnte weg. In diesem Moment begannen die Schüsse zu fallen.» Gibly und ihre Freunde rannten um ihr Leben. Sie schafften es bis zu einem Wald, wo sie dann später von einem vorbeifahrenden Auto mitgenommen wurden.
Auch Ben Haim (27) sah die Militanten in der Ferne, die sich zu Fuss näherten. «Ich nahm die Autoschlüssel eines betrunkenen Freundes, setzte so viele Leute wie möglich ins Auto und fuhr wie verrückt los. Auf den Strassen wurde schliesslich auf Autos geschossen», sagte sie gegenüber der «Washington Post».
«Die Leute, die geblieben sind, wurden entführt oder ermordet.» Anschliessend seien sie und ihre Begleiter stundenlang durch Felder und Gestrüppe gerannt. «In jede Richtung, in die wir rannten, schossen mehr Leute auf uns; wir rannten zwei Stunden lang und versuchten zu entkommen. Wir fingen an, uns im Gebüsch zu verkriechen. Irgendwann merkte ich, dass ich nicht mehr laufen konnte.» Also haben sie sich mit Blättern bedeckt.
«Von Leichen übersäte Autos blockierten die Strassen»
Der Festival-Besucher Gal Raz (31) fügt hinzu: «Es gab Autos, auf denen Leichen lagen, die die Strasse blockierten. Wir konnten nicht raus. Etwa acht Terroristen haben auf unser Auto geschossen.»
Auch Gili Yoskovich überlebte den Horror. Sie habe sich drei Stunden lang zitternd unter einem Baum versteckt, bis sie von israelischen Soldaten entdeckt wurde, erzählt sie gegenüber «BBC». «Ich sah, dass rundherum Menschen starben. Ich war sehr ruhig. Ich habe nicht geweint, ich habe nichts gemacht.» Stattdessen habe sie sich bereits darauf eingestellt, dass sie gleich sterben werde. «Ich habe mir selbst gesagt: ‹Es ist ok, atme einfach und schliesse deine Augen.›»
Vater bangt um Noa Argamani
Weniger Glück hatten zwei andere junge Festivalbesucherinnen. Die Israelin Noa Argamani (25) besuchte das Festival zusammen mit ihrem Freund Avinatan Or (30). Ein Video zeigt, wie die Frau von Hamas-Kämpfern auf einem Töff entführt wird. Sie streckt ihre Arme aus, fleht um Hilfe. Wenige Meter weiter hinten wird ihr Freund von den Milizen weggebracht. Wie es den beiden Opfern geht, ist unklar.
Argamanis Vater Yaacov bangt um sein Kind. In einem Interview mit dem israelischen TV-Sender Channel 12 bricht er in Tränen aus. «Ich konnte sie in dem Moment nicht beschützen.»
Lebt Shani Louk noch?
Ebenfalls am Festival entführt wurde die Deutsch-Israeli Shani Louk (22). Auch von ihr kursiert ein Video. Louk liegt dabei mit dem Gesicht nach unten auf der Ladefläche eines Pick-ups. Umringt von bewaffneten Hamas-Kämpfern. Ihre Beine sind unnatürlich angewinkelt. Klar zu erkennen sind ihre Tattoos. Genau diese führen zu ihrer Identifizierung.
«Wir haben sie an den Tattoos erkannt», sagt ihre Mutter Ricarda Louk zum «Spiegel». Sie habe ihre Tochter am Samstagmorgen gebeten, einen Bunker aufzusuchen. Daraufhin habe die 22-Jährige geantwortet, sie würden «losfahren, um einen Schutzort zu suchen.» Danach habe sie nichts mehr gehört. Erst auf den Entführungs-Videos habe sie ihre Tochter wieder erkannt. Der Tod der jungen Frau ist nicht bestätigt. Die Mutter will die Hoffnung darum noch nicht aufgeben. «Für mich sieht sie bewusstlos aus», so die Mutter über das Video. Und: «Ich will das einfach noch nicht wahrhaben.»
Fussballer unter den Todesopfern
Ein Festivalbesucher, dessen Tod dagegen bestätigt ist, ist Lior Asulin. Der 43-jährige Israeli war ein bekannter Fussballspieler. Er war unter anderem Stürmer bei Hapoel Tel Aviv. «Mit grosser Trauer haben wir nach vielen Stunden, in denen er als vermisst gemeldet wurde, erfahren, dass unser ehemaliger Spieler Lior Asulin von Terroristen auf der Party ermordet wurde», teilt der Club mit.
Das Musikfestival war nur einer von mehreren Orten, die vom Angriff betroffen waren. Am Sonntagnachmittag melden die israelischen Behörden bereits über 700 Tote und mehr als 2000 Verletzte. Zudem bestätigt die israelische Regierung, dass mindestens 100 Menschen bei den Angriffen im Land entführt wurden. Auf der anderen Seite gabs ebenfalls Tote, nachdem Israel mit Gegenangriffen reagiert hat. Im Gaza-Streifen kamen nach Angaben des Gesundheitsministeriums bislang mindestens 370 Menschen ums Leben. Rund 2200 wurden verletzt.