Die Befreiung Chersons setzt einen ganz schön unter Druck: Der russische Präsident Wladimir Putin (70) versucht mit allen Kräften, den Rückzug aus der eroberten Stadt als besonnenen Akt einer militärischen Umgruppierung darzustellen. Der Kreml-Kenner Andrej Piontkowski (82) hingegen ist überzeugt, dass Putin seinen Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen kann. Denn nach diesem Debakel würden sich auch jene, die bisher hinter ihm standen, gegen ihn wenden.
Piontkowski ist Wissenschaftler und Journalist, früher leitete er den Moskauer Thinktank Strategic Studies Center. Nun ist er sich sicher, dass der Rückzug aus Cherson Putins Untergang bedeutet. In einem Interview mit dem ukrainischen TV-Sender Freedom sagt er: «Jetzt ist jedem russischen Bürger klar, dass Russland den Krieg verliert.» Auch wenn die Mehrheit des Volkes die «Spezialoperation» befürwortete – jetzt würden diese Entscheide zu «Schockprozessen» im Bewusstsein der Menschen führen.
Das habe innenpolitische Auswirkungen. Nach Piontkowskis Prognosen spaltet die russische Bevölkerung zunehmend in zwei Lager. Die einen hassten Putin seit Beginn der Invasion, weil er einen unnötigen Krieg vom Zaun brach. Diejenigen, die seiner imperialistischen Propaganda glauben, werden ihn hassen, weil er verliert. Beide Lager eint aus Sicht von Piontkowski eine enorme Wut auf den Kremlchef. «Er muss nun auswählen, wessen Hass für ihn gefährlicher ist.»
«In einer solchen Situation überlebt man nicht lang»
Immer wieder konnte Putin trotz Niederlagen seine Kritiker überzeugen und fand andere Sündenböcke für Fehler. So überbrachten etwa die obersten Militärchefs Russlands der Öffentlichkeit im Fernsehen die Hiobsbotschaft aus Cherson – und nicht der Kreml-Chef. Doch auch bisherige Putin-Verbündete, meint Piontkowski, würden sich zunehmend fragen: «Wer ist schuld? Wozu überhaupt dieser Krieg?»
Wie die Antworten auf diese Fragen lauten, daran hat der Kreml-Kenner wenig Zweifel: «Bald werden alle Bürger Putin hassen», stellt Pionkowski klar. Der russische Präsident habe sich in eine ausweglose Situation manövriert. «In einer solchen Situation überlebt man nicht lang.»
Laut Piontkowski war die Teilmobilmachung ein Fehler. «25 Millionen russische Wehrpflichtige können in den Fleischwolf des Krieges geworfen werden», so der Experte. Damit habe er das Vertrauen vieler Bürger verloren.