Monatelang kämpften Russland und die Ukraine um die Stadt Cherson. Nachdem Russland den strategisch wichtigen Ort direkt vor der annektierten Halbinsel Krim bereits im März besetzen konnte, gerieten die Truppen von Präsident Wladimir Putin (70) in den vergangenen Wochen mehr und mehr in die Defensive. Und der Druck wurde immer grösser. Am Mittwoch hat das Verteidigungsministerium die Reissleine gezogen und den Abzug aller russischen Truppen aus der Stadt im Süden der Ukraine bekannt gegeben.
«Für Russland ist diese Entwicklung eine Katastrophe», sagt Marcus Keupp, Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich, zu Blick. «Dieser Abzug ist der Schlusspunkt einer Entwicklung, die bereits in den vergangenen zwei Wochen punktuell sichtbar war.»
So hätte Russland schon Anfang November damit begonnen, tausende Zivilisten aus der Stadt zu bringen, zudem habe in der Stadt eine regelrechte Plünderung stattgefunden. «Das alles war die Vorbereitung für den jetzigen Abzug.»
Abzug aus strategischer Sicht nicht durchdacht
Direkt an der Front befinden sich Schätzungen zufolge zwischen 18'000 und 30'000 russische Soldaten. Diese hätten vermutlich aus dem Fernsehen vom Abzug erfahren, so der ETH-Experte. Keupp zu Blick: «Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Russen diesen Abzug aus strategischer Sicht genau durchdacht haben.»
Die Truppen seien von Norden und Westen eingekesselt und könnten ausschliesslich über den Fluss Dnepr abziehen, erklärt der Experte (siehe Karte). «Viele der Brücken über den Fluss sind aber durch ukrainischen Raketenbeschuss stark beschädigt und können nur mit leichten Fahrzeugen passiert werden. Es ist also unmöglich, auf einen Schlag zehntausende Soldaten gleichzeitig zu evakuieren.»
Auch eine Flucht über den Fluss ist unmöglich. «Der Dnepr ist bei Cherson rund zwei Kilometer breit und in dieser Jahreszeit eisig kalt. Einfach auf die andere Flussseite schwimmen, ist unmöglich», sagt Keupp.
Eine Falle der Russen scheint unwahrscheinlich
Deshalb biete sich den Ukrainern nun die Möglichkeit, der russischen Armee einen schweren Schlag zu versetzen. «Zehntausende russische Soldaten drängen sich am Rand des Dnepr. Die Truppen werden von der ukrainischen Front immer mehr eingekesselt, es gibt keinen Ausweg. Die russischen Truppen können entweder kapitulieren oder müssen mit schweren Verlusten rechnen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.» Diese Situation sorge auch für eine weitere Verschlechterung der Moral innerhalb der russischen Armee.
Dass die Russen den Ukrainern eine Falle stellen und den Abzug aus Cherson nur fingieren, glaubt Keupp indes nicht. «Das würde aus militärstrategischer Sicht keinen Sinn machen. Für einen solchen Hinterhalt bräuchte die russische Armee ein Gebiet, in das sie die Ukrainer locken können und aus dem es keinen Ausweg gibt. In Cherson aber ist Russland völlig eingekreist – und auf einen Häuserkampf dürften es die russischen Truppen nicht ankommen lassen.»
Sprengt Russland den Damm doch noch?
Auch Dominik Knill (63), Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft, geht im Gespräch mit Blick davon aus, dass Russland seine Truppen aus Cherson abziehen wird. «Ich glaube aber nicht, dass die Russen das gesamte Gebiet einfach kampflos den Ukrainern überlassen wird.» Hellhörig mache ihn vor allem die offensive und öffentlichkeitswirksame Ankündigung im russischen Staatsfernsehen. «Als Stratege läuten bei mir in einem solchen Fall alle Alarmglocken.»
Laut Knill sei es etwa denkbar, dass Russland seine Truppen abzieht, die Ukrainer einmarschieren lasse und dann einen taktischen Schlag gegen die feindlichen Truppen ausführe, etwa mit der Sprengung des Staudamms Kachowka nördlich von Cherson. Eine solche Sprengung hätte die Überflutung des ganzen Gebietes zur Folge – inklusive Cherson.
«Ich traue Russland durchaus einen solchen Schlag zu», sagt Knill. «In den vergangenen zwei Wochen hat die russische Armee den Grossteil der zivilen Bevölkerung evakuiert, eine Sprengung würde also vermutlich fast ausschliesslich militärische Kräfte treffen. Russland hat Erfahrungen mit solchen Aktionen – und die Ukrainer würden dann in eine sehr unangenehme Lage kommen», sagt der Schweizer Oberst.
«Dann wäre der Krieg vorbei»
Ein Wendepunkt im Krieg sei die Ankündigung daher vermutlich nicht. «Viel eher halte ich die Ankündigung für eine List. Russland hat Erfahrungen mit Kriegslisten.» Allgemein geht Knill davon aus, dass die militärischen Kampfhandlungen in den kommenden Monaten eher in den Hintergrund rücken dürften. «Beide Seiten sind geschwächt, der Winter bietet sich an für eine Pause. Russland könnte aber in der Zwischenzeit versuchen, mit weiteren Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur den Willen des ukrainischen Volkes weiter zu brechen.»
Optimistischer ist ETH-Stratege Markus Keupp. Er sagt: «Mit dem Abzug der russischen Truppen aus Cherson haben die Ukrainer den Krieg meiner Ansicht nach strategisch gewonnen. Wenn die ukrainische Armee jetzt geschickt vorgeht, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die gesamte russische Front zusammenbricht – dann wäre der Krieg vorbei.»