Am 24. Februar hat ein Krieg begonnen, den kaum jemand für möglich gehalten hatte. Eine Stunde bevor in Luzern mit dem Urknall die Fasnacht eröffnet wurde, blies der russische Präsident Wladimir Putin (69) zum Einmarsch in die Ukraine.
Der Kreml-Chef führt nicht Krieg gegen die Armee eines anderen Landes. Er führt einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung und nimmt gezielt weiche Ziele wie Spitäler ins Visier. Um nicht mit einem Spital verwechselt zu werden, hat daher die Schweizer Botschaft in Kiew nach der Wiedereröffnung die Schweizer Fahne eingezogen.
Putins Krieg in zehn Stichwörtern: Blick schaut zurück auf hundert Tage, die die Welt nachhaltig verändert haben und noch verändern werden.
Die Lüge
Am Anfang stand Putins grosse Lüge. Stets behauptete er, beim Zusammenzug von rund 150'000 Soldaten an der Grenze der Ukrainer handle es sich bloss um eine Übung. Am 24. Februar, 4 Uhr Schweizer Zeit, blies er aber vom Norden, Süden und Westen her zum Einmarsch ins Nachbarland. Auch seine eigene Bevölkerung belügt er: Putin spricht von einer «militärischen Spezialoperation», bei der die Ukrainer befreit werden müssten. Wer anderslautende Meldungen verbreitet, muss mit Gefängnis rechnen.
Die Schmach
Innert weniger Tage wollte Putin die Ukraine erobern. Wochenlang aber steckten seine Truppen vor der Hauptstadt Kiew fest, weil sich die Ukrainer tapfer verteidigten, die russischen Fahrzeuge und Waffen zu einem grossen Teil ihren Dienst versagten und die Moral der jungen Invasoren nach monatelangen Übungen klein war. Die Russen mussten sich schliesslich von Kiew zurückziehen. Seither konzentrieren sie sich auf den Osten und den Süden der Ukraine.
Der Held
Wie war über Wolodimir Selenski (44) geschnödet worden. Kann der ehemalige TV-Komiker als Präsident sein Land durch den Krieg führen? Und ob er es kann! In seinem feldgrünen Shirt wendet er sich praktisch täglich an die Welt und holt für sein Land Sympathien und Waffen aus dem Westen. Als ihn die USA evakuieren wollten, lehnte er ab, mit dem Satz, der in die Geschichte eingehen wird: «Ich brauche Munition, kein Taxi.»
Der Widerstand
Als Putin 2014 die Krim annektierte, leistete die ukrainische Armee keinen Widerstand – sie war schlicht zu schwach. In wenigen Jahren haben die Ukrainer aber eine Verteidigung aufgebaut, die mit einer der mächtigsten Armeen der Welt auf Augenhöhe steht und sie teilweise sogar zurückdrängt. Allerdings: Ohne die massiven Waffenlieferungen aus dem Westen hätte die Ukraine wenig Chancen.
Der Wahn
Der französische Präsident Emmanuel Macron (44), der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (63), Papst Franziskus (85) und viele andere haben versucht, Putin zur Vernunft zu bringen. Doch der Kreml-Chef hört auf niemanden. Wie vom Wahn getrieben, verfolgt er sein Ziel, die Ukraine zu «entnazifizieren». Ist er krank? Spekuliert wird viel: Krebs, Parkinson, drohende Blindheit. Solche Gerüchte hat der russische Aussenminister Sergei Lawrow (72) dementiert.
Die Brutalität
Die Invasoren, die nebst aus russischen Soldaten auch aus tschetschenischen Söldnern und Mitgliedern der Wagner-Privatarmee bestehen, schrecken vor nichts zurück. Beim Ziel, die Ukraine zu «entnazifizieren», greifen sie auch Schulen und Spitäler an. Täglich werden im Schnitt mindestens zwei Kinder getötet. Regelmässig werden Frauen, Männer und auch Kinder vergewaltigt. Für Schlagzeilen sorgte das Massaker von Butscha, bei dem Hunderte von Zivilisten erschossen wurden. Butscha ist kein Einzelfall.
Das Leiden
Rund 13 Millionen Ukrainer, das ist ein Drittel der Bevölkerung, sind vor den Aggressionen der Russen geflohen. Gegen acht Millionen sind in den Westen des Landes gefahren, rund fünf Millionen haben das Land verlassen. Es handelt sich um die grösste Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wer in den umkämpften Gebieten geblieben ist, leidet: Es gibt vielerorts weder Strom noch Lebensmittel noch medizinische Versorgung. Insgesamt soll der Krieg bisher gegen 50'000 Tote gefordert haben.
Die Einheit
Das hätte Putin nicht erwartet: Sein Krieg schweisst den Westen zusammen. Viele Länder haben gemeinsam massive Sanktionen gegen Russland ergriffen. Zudem liefert der Westen den Ukrainern Waffen. Besonders verärgert ist der Kreml über den Entscheid von Schweden und Nachbarland Finnland, die der Nato beitreten wollen. Sogar in der Schweiz wird nun über eine engere Zusammenarbeit mit der Nato sowie über eine neue Definition von «Neutralität» diskutiert.
Die Ohnmacht
100 Tage Krieg in der Ukraine – und ein Ende ist nicht in Sicht. Putin lässt weiterhin nicht mit sich verhandeln. Die Politologin Federica Saini Fasanotti (50) vom Italian Institute for International Political Studies in Mailand spricht von einer «neuen Phase des Kriegs», der sich auf den Osten der Ukraine fokussieren würde. Ein Rückzug der Russen sei keine Option, auch ein Aufgeben der Ukrainer nicht. Fasanotti prophezeit: «Der Krieg wird noch viele Jahre andauern.»
Die Angst
Die Angst ist gross, dass die Aggressoren auch andere Länder angreifen oder zumindest provozieren könnten. Sergiy Gayday (46), Gouverneur der Oblast Luhansk, sagte vor kurzem über Putin zu Blick: «Sollte er gewinnen, wird er bald die baltischen Staaten angreifen.» Und Putins Verbündeter Ramsan Kadyrow (45), der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, sagte diese Woche, dass er «an Polen» interessiert sei. Die Auswirkungen des Krieges sind jedoch jetzt schon weltweit zu spüren: Es kommt zu Energieengpässen und Hungersnöten.