Die ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk galt lang als letzte ukrainische Festung im Donbass, umzingelt und konstant unter Beschuss von russischen Truppen. Langsam, aber sicher kann die russische Armee allerdings Vorstösse in das Zentrum der Stadt verzeichnen. Zuletzt war die Rede davon, dass die Stadt in der Region Luhansk zu 70 Prozent von Russen eingenommen ist.
Mit Mariupol und Sjewjerodonezk in den Händen der Russen scheint der Fall des Donbass an Russland nicht mehr weit entfernt. Was dann passiert, ist unklar. Zu Beginn der russischen Invasion sprach der russische Präsident Wladimir Putin (69) noch von der Übernahme der gesamten Ukraine, in seiner Rede am 9. Mai wollte er plötzlich lediglich den Donbass «befreien».
Wie also werden sich die russischen Erfolge im Donbass auf den weiteren Kriegsverlauf auswirken? Für die Politologin Federica Saini Fasanotti (50) vom Italian Institute for International Political Studies in Mailand ist klar: Die russische Offensive wird keineswegs mit dem Erfolg in Sjewjerodonezk enden. «Sie werden das ganze Gebiet weiter bombardieren, bis sie die vollständige Kontrolle haben, so wie es mit Mariupol geschehen ist», sagt die Expertin für Aussenpolitik, Sicherheit und Kriegsstrategie zu Blick.
Fall des Donbass «nur noch Frage der Zeit»
Sobald dies der Fall sei, werde sich der gesamte Fokus des Kriegs auf den Donbass verschieben. «Alle anderen Teile der Ukraine werden dann ausser Acht gelassen werden», so Fasanotti weiter. Und das habe Folgen. «Das Gesicht des Kriegs wird sich massgeblich ändern. Er wird unregelmässiger und vielleicht weniger intensiv werden – quasi eine neue Phase des Kriegs.»
Laut Strategieexperte Marcel Berni, von der Militärakademie an der ETH Zürich, wäre für Russland nach einer Donbass-Eroberung vor allem die langfristige Okkupation und eine mögliche Eingliederung dieser Gebiete in die Russische Föderation wichtig – während sich der zivile ukrainische Widerstand verschärfen würde.
Die ukrainische Bevölkerung werde die Oblasten Donezk und Luhansk auch nach einem russischen Erfolg nicht einfach sang- und klanglos aufgeben, ist auch Fasanotti der Meinung. «Der Krieg wird noch viele Jahre andauern, denn sie werden um ihr Land kämpfen. Ein Rückzug ist für die Ukraine keine Option.»
Autonomer Donbass als einziges Kriegsende
Ein Ende ist laut Fasanotti nicht in Sicht. «Keiner der beiden Kontrahenten ist an einer Einigung interessiert oder möchte nachgeben. Putin und Selenski wollen das gleiche Territorium.»
Die Politikwissenschaftlerin sieht deshalb nur eine einzige Möglichkeit, den Krieg um den Donbass zu beenden. «Man sollte Luhansk und Donezk zu amtlich autonomen Zonen nach dem Vorbild des Südtirols oder Trentinos in Italien machen.» Ob die beiden Partien eine solche Lösung akzeptieren würden, sei schwierig zu sagen, denn keines der beiden Länder hätte so seine Ziele erreicht.
«Die Wahrheit ist aber biegsam – Russland könnte so behaupten, dass es den Donbass aus den Fängen der Ukraine befreit hat. Und die Ukrainer könnten argumentieren, dass sie den Donbass vor der Besetzung durch Russland gerettet haben.» Mit dieser Lösung wurde allerdings zu lange zugewartet, bedauert Fasanotti. «Dafür könnte es bereits zu spät sein.»