«Bamiyan hat die besten Kartoffeln!», sagt Hassan Fasihi stolz und tischt Shorwa auf. Der wundervoll sämige Eintopf gehört zu den bekanntesten Rezepten der afghanischen Küche. Dazu gehören Lammfleisch, diverse Gemüsesorten und eine gehörige Portion Brot, die man in die Brühe tunkt. Tatsächlich sind die hier in der ganzen Provinz angebauten Kartoffeln nicht nur grösser als anderswo in Afghanistan, sie schmecken auch besser. Fasihi rechnet fest damit, dass sie eines Tages ins Ausland exportiert werden.
Sein Optimismus vergeht allerdings sofort, wenn es um die neuen Machthaber geht. Wie das ganze Land wird auch seine Region nun schon seit fast einem Jahr von den militant-islamistischen Taliban regiert. Hier in Bamiyan haben die Extremisten der Zivilbevölkerung besonders grosses Leid zugefügt. Bis heute wird die Provinz mehrheitlich von Angehörigen der Hazara-Minderheit bewohnt. Im Gegensatz zu den sunnitischen Taliban sind die meisten Hazara Anhänger des schiitischen Islam. Viele von ihnen gehörten einst Fraktionen an, welche die Taliban bekämpften.
Mehr über die Taliban
Die Hazara-Miliz, die Kampforganisation der grössten religiösen und ethnischen Minderheit des Landes, wurde in den 1980er- und 1990er-Jahren von Abdul Ali Mazari geführt, für dessen Tod 1995 die Taliban verantwortlich gemacht werden. Der schiitische Glauben der Hazara bedingte besonders enge Kontakte dieser Miliz zum Iran. Wie die meisten anderen Fraktionen waren auch die Milizen von Mazari während des Bürgerkriegs in den 1990er-Jahren für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Viele Hazara verehren ihn dennoch nicht nur als ihren Kriegsherrn, sondern auch als Helden, der für ihre politische Repräsentation gekämpft hat.
Bis zur Rückkehr der Taliban stand auf dem Hauptplatz von Bamiyan-Stadt eine Statue Mazaris. Dann verschwand sie praktisch über Nacht und wurde von den Taliban durch einen aus Stein gemeisselten Koran ersetzt. «Wir sind Muslime. Niemand von uns kann etwas gegen den Koran sagen. Das wissen die Taliban. Aber natürlich gefällt es den Menschen hier nicht, wenn mit Mazari so umgegangen wird», erklärt Hassan Fasihi.
Angst und Skepsis
Im August 2021 zogen die Nato-Truppen unter Führung der USA aus Afghanistan ab. Bereits in den Wochen zuvor hatte sich der Vormarsch der Taliban abgezeichnet, die immer mehr Distrikte eroberten. Nach dem Abzug der westlichen Soldaten und dem Zerfall der afghanischen Sicherheitskräfte nahmen die Taliban auch Bamiyan ein. Die Taliban, die mehrheitlich zur Volksgruppe der Paschtunen gehören, setzten in dieser Region auch auf örtliche Verbündete.
Deshalb finden sich hier auch Hazara unter den Taliban. Die Sieger nutzen das für ihre Propaganda und stellen sich als integrative Kraft dar. Der afghanische Politologe Niamatullah Ibrahimi erläutert die Strategie, die in seinen Augen hinter diesem Verhalten steht: «Die Taliban suchen sich meist örtliche Verbündete, die von weiten Teilen der Bevölkerung verachtet und oft wie Aussätzige behandelt werden. Diese Konflikte werden dann von den Taliban instrumentalisiert.»
Ibrahimi beschäftigt sich seit Jahren mit der Situation der Hazara in Afghanistan. Gegenwärtig lehrt er an der Trope University in Australien. Laut seiner Einschätzung sind weite Teile der Hazara nach wie vor von Gräueltaten der Taliban in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren traumatisiert. So ermordete die Guerillatruppe beim Massaker von Yakawlang im Januar 2001 Hunderte von Zivilisten. Die Überreste des Marktes, den sie dabei niederbrannten, sind bis heute sichtbar. Angst und Skepsis gegenüber den Taliban seien weithin verbreitet. «Jetzt sind sie hier, und wir können daran nichts ändern», sagt Hassan Fasihi nur knapp. Die Einwohner Bamiyans seien gezwungen, unter den neuen Herren zu leben; immerhin gebe es weniger Probleme als gedacht.
Mehr Armut, weniger Hoffnung
Das grösste Problem im Alltag sei die Armut. «Die Menschen hier waren schon immer arm. Nun sind sie noch ärmer. Hazara-Gebiete wurden in den letzten Jahren systematisch benachteiligt. Daran hat sich bis heute nichts geändert», erzählt er. Internationale Gelder und Hilfsgüter erreichten die Region schon lange nicht mehr. Seit Jahren ist Hassan Fasihi für eine bekannte internationale NGO tätig. Sie gehört zu den wenigen, die weiterhin in Bamiyan tätig sind.
«Ich werde mit meiner Familie hierbleiben und schauen, wie sich die Situation entwickelt», resümiert er. Viele seiner Kollegen sind geflüchtet oder planen, sich in naher Zukunft ins Ausland abzusetzen. «Ich sehe hier keine Zukunft. Bald bin ich weg», sagt auch Munawar Karimi, ein Freund und Kollege Fasihis. Er will mit seiner Ehefrau und den beiden Töchtern in den Iran gehen. Seine Söhne seien bereits in Europa.
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Karimi stammt ursprünglich aus Kabul, doch in den letzten Jahren war er beruflich in ganz Afghanistan unterwegs, vor allem in Bamiyan und dem entlegenen Wakhan-Korridor im Norden. «Ich habe bereits in den 1990er-Jahren Musikkassetten vernichtet und mich vor den Taliban versteckt. Diese Typen sind immer noch die gleichen. Das mache ich nicht noch mal mit», sagt Karimi. Er sei ein alter Mann, doch seine Kinder hätten eine bessere Zukunft verdient.
Vor allem für seine Töchter sieht Karimi schwarz. Nahezu im ganzen Land ist Mädchen der Besuch einer weiterführenden Schule über die sechste Klasse hinaus weiterhin verboten. Das Versprechen, alle Bildungseinrichtungen zu öffnen, haben die Taliban im März gebrochen. Schulen, die noch geöffnet sind, werden zunehmend einer strikten Geschlechtertrennung und den Lehrplänen des neuen Regimes unterworfen. «Viele fliehen, weil sie ihren Töchtern Bildung ermöglichen wollen», sagt Karimi. Dann zeigt er auf die Überreste der legendären Buddhas von Bamiyan. Wenige Monate vor dem Fall ihres Regimes im Jahr 2001 hatten die Taliban die antiken Statuen im Bamiyan-Tal zerstört. Vom einstigen Weltkulturerbe sind nur Trümmer übrig. «Denken Sie wirklich, dass man mit denen eine Zukunft hat?», fragt er ins Nichts.
Tourismus-Boom mit Buddha
Nach dem Fall der Taliban 2001 gab es mehrere Anläufe, die berühmten Buddhas zu restaurieren. Nicht nur zahlreiche Archäologen und Historiker besuchten damals Bamiyan, sondern auch inländische und ausländische Touristen. Zwischen 2001 und 2020 schossen Hotels und Gaststätten aus dem Boden. Zu den Attraktionen zählten selbstverständlich die Überreste der Buddhas, deren Höhlenräume weiterhin zugänglich waren, ebenso die legendären Band-e-Amir-Seen, die rund drei Stunden von Bamiyan-Stadt entfernt liegen.
Während der Tourismus in Bamiyan zu Beginn noch brachlag, boomt er mittlerweile wieder. Allein in den letzten Wochen besuchten Zehntausende die Buddhas, die mittlerweile von ihren einstigen Zerstörern bewacht werden. «Wir machen nur, was uns aufgetragen wurde», sagt ein Taliban-Kämpfer vor den Statuen. Er verkauft Eintrittstickets an Touristen, trägt eine Pelzmütze und eine Kalaschnikow. Sein Kamerad ist mit dem Hören von Taranas beschäftigt, religiösen Gesängen, die bei den Taliban beliebt sind. Wie Munawar Karimi erzählt, betrieb früher eine junge Hazara-Frau das Souvenirgeschäft. Sie verkaufte Schmuck und andere Andenken. Auch sie wurde von den Taliban verdrängt.
Von den Warlords im Stich gelassen
Besonders wütend macht die Bewohner, wie sie im vergangenen Sommer von den damaligen Machthabern im Stich gelassen wurden. Führende Warlords und Hazara wie Mohammad Mohaqiq und Ex-Vizepräsident Karim Khalili verliessen frühzeitig das Land, wie es der damalige Präsident Aschraf Ghani vorgemacht hatte. Der floh vor einem Jahr mitsamt seinen Mitarbeitern aus Kabul und setzte sich ins benachbarte Tadschikistan ab, bevor die Taliban in die Hauptstadt einfielen.
«Zur Hölle mit ihnen. Ihre Masken sind gefallen, und sie sind weg. Das ist gut!», sagt Mohammad Hossain. Mit seiner Familie hat er einen Schrein nahe den Seen von Band-e-Amir besucht. Der Legende zufolge löste dort das Schwert von Ali, des Vetters und Schwiegersohns des Propheten Mohammed, einen Felsbruch aus, der die Stauseen entstehen liess. Mit den Taliban hat Hossain, wie er sagt, keine Probleme. Er bekommt sie kaum zu Gesicht. Bisher besuchten die neuen Machthaber sein abgelegenes Dorf erst einmal. «Das ist sogar für sie zu weit», sagt Hossain lächelnd.
Während er spricht, fliegt ein Hubschrauber über die Stauseen. Das Militärgerät in Afghanistan befindet sich mittlerweile fast komplett in den Händen der neuen Machthaber. Im Lauf des Abzugs wurde ihnen vieles praktisch überlassen. Später wurde bekannt, dass das US-Militär schwere Ausrüstungsgegenstände nicht mitnehmen konnte und sie deshalb zerstörte oder unbrauchbar machte. Doch die Humvees und Fluggeräte der afghanischen Armee sind noch weitgehend funktionsfähig und werden nun von den neuen Machthabern benutzt.
Checkpoint Taliban
Eine hochrangige Taliban-Delegation soll vor kurzem in die Provinz gekommen sein. «Wir haben jeden von ihnen mitsamt ihrer Fahrzeuge gefilzt», sagt Khalilullah, ein Taliban-Kämpfer, der vor den Toren Bamiyans patrouilliert. Wer die Stadt betreten will, muss am Checkpoint vorbei. «Wahrscheinlich wollten sie einen Blick auf den See werfen. Viele Taliban-Kämpfer waren noch nie in Bamiyan», erklärt Munawar Karimi. Vor kurzem seien ihnen bewaffnete Milizen in die Arme gelaufen, so Khalilullah. Er beharrt darauf, dass die «Ära der Korruption» vorbei sei und deshalb mit jedem gleich umgegangen werde, auch mit Taliban-Delegationen aus anderen Provinzen.
Er selbst stamme nicht aus Bamiyan, sondern aus der nördlichen Provinz Baghlan. Vor etwa drei Wochen sei er mit seinen Kameraden hierher verlegt worden. Die Buddhas oder die blauen Seen von Band-e-Amir konnte er noch nicht bestaunen. «Ich möchte demnächst einen Ausflug machen, falls es mir erlaubt wird. In all den Jahren des Kriegs habe ich nichts Schönes von meiner Heimat gesehen», sagt er. Dann verabschiedet er sich und kontrolliert den nächsten Wagen.
* Emran Feroz ist österreichisch-afghanischer Journalist, Kriegsreporter und Autor. 2021 erschien sein Buch «Der längste Krieg, 20 Jahre War on Terror», Westend-Verlag.