Die Bilder vom Flughafen Kabul gehen niemandem mehr aus dem Kopf: Menschen klammern sich an ein startendes Transportflugzeug der US Air Force. Die Maschine hebt ab, Menschen stürzen in den Tod. Seit Mitte August ist die afghanische Hauptstadt in den Händen der islamistischen Taliban. Am 22. und am 29. August publizierte SonntagsBlick die Tagebucheinträge von Fariba* aus Kabul. In der heutigen Ausgabe schreibt die 29-jährige Krankenschwester, was seither passiert ist und wie es ihr heute geht.
Seit fünf Monaten herrschen die Taliban in unserem Land. In dieser Zeit hat sich vieles verändert. Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen, welchen Punkt ich als Erstes thematisieren soll. Die ständige Angst, die schlaflosen Nächte, die Armut oder die Hoffnungslosigkeit?
Es gibt weder Hoffnung noch Motivation in uns. Ich sehe keine glücklichen Menschen auf der Strasse. Die Leute, die für die frühere Regierung gearbeitet haben, sind untergetaucht. Sie verstecken sich und leben in der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Man hört überall Gerüchte, dass Frauen und Männer im Geheimen gefoltert oder umgebracht werden. Ich muss stark sein, denn dieses Leid ist allgegenwärtig und an jeder Ecke sehe ich Menschen, die ihre Freude am Leben verloren haben.
Die Armut ist allgegenwärtig
Noch wichtiger für unseren neuen Alltag ist die Armut. Die Inflation ist sehr hoch, Lebensmittel dadurch sehr viel teurer geworden. Viele Menschen suchen vergeblich Arbeit. Sie haben kein Einkommen, können Miete und Rechnungen nicht mehr zahlen.
Wenn ich auf der Strasse bin, sehe ich viel mehr Bettlerinnen und Bettler als früher. Sie flehen mich an, für sie ein Stück Brot zu kaufen. Alle sind hungrig. Auch meiner Familie geht es nicht gut. Unsere Haupteinnahmequelle, ein Elektroladen, läuft nicht mehr wie erhofft – wir haben kaum Kundschaft. Langsam können auch wir unseren Lebensunterhalt kaum mehr bestreiten.
All dieses Leid, diese Hoffnungslosigkeit …! Armut, Hunger und Angst vor der Zukunft fühlen sich an wie ein langsames Sterben. Als wären wir lebendig begraben.
Ein Leben in ständiger Angst
Ab der ersten Sekunde, da die Taliban in Kabul einmarschierten, lief alles aus dem Ruder. Viele Menschen haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt und haben versucht, unser Land legal oder illegal zu verlassen.
Wir leben hier in ständiger Angst. All die Versprechen, die die Taliban gemacht haben, haben sich als Lügen entpuppt. Sie haben uns versprochen, dass wir in Sicherheit leben könnten. In Wahrheit jedoch suchen sie nach Angestellten der vorherigen Regierung. Sie bedrohen uns, und Willkür ist an der Tagesordnung. Unsere friedlichen Demonstrationen werden brutal zerschlagen. All unsere Fortschritte in Sachen Frauenrechte sind verloren gegangen. Das Ministerium für Frauenfragen ist geschlossen.
Es fühlt sich an wie 100 Jahre Rückschritt. In unseren Behörden arbeiten jetzt Taliban-Anhängerinnen und -Anhänger, die zuvor in den Bergen gelebt haben und nicht gut ausgebildet sind. Zur Bank zu gehen, braucht Mut, denn dort arbeiten jetzt Taliban. Sie werden sehr schnell verbal ausfällig und manchmal sogar handgreiflich, wenn man einen kleinen Fehler beim Abheben oder Einzahlen von Geld macht.
Taliban haben Träume der Jungen zerstört
All die jungen Erwachsenen haben keine Hoffnung mehr, weil sie weder studieren noch arbeiten können. Meine beiden jüngeren Schwestern haben dieses Jahr ihr Studium an der Universität Kabul mit grossen Träumen für die Zukunft angefangen. Sie sehen für sich keine Perspektive und flehen meine Eltern an, dass wir auch in ein anderes Land flüchten sollen. Der Alltag meiner Schwestern hat sich drastisch verändert: Bis vor kurzem haben sie ununterbrochen und gierig Bücher verschlungen, waren aktiv und voller Ideen – jetzt leben sie zurückgezogen in ihren Zimmern. Trauer frisst tagtäglich unsere Träume.
Wer sich die Flucht leisten konnte, ist weg
Ich sollte mich doch glücklich schätzen, weil ich immer noch in einem privaten Spital arbeiten darf. Ich kann meinen Lebensunterhalt verdienen und meinen Traumberuf weiter ausüben. Aber auch bei der Arbeit hat sich vieles verändert: Jetzt sehe ich beim Eingang des Spitals Taliban-Soldaten, sie machen mir Angst. Zahlreiche meiner Arbeitskolleginnen und Kollegen sind ins Ausland geflüchtet. Es mangelt uns an Personal, meine Arbeitsbelastung hat sich vervielfacht.
Ausserdem kommen auch keine ausländischen Ärztinnen und Ärzte mehr, um die schwierigen Operationen durchzuführen. Wir können ihre Sicherheit nicht gewährleisten. Wir weisen Menschen weg. Die einzige Hoffnung auf Gesundheit ist durch die Taliban zerstört worden. Wir geben alles und versuchen, unsere Landsleute zu pflegen. Ich habe einen Eid abgelegt, Patientinnen und Patienten zu pflegen und ihnen zu helfen, aber unter diesen Umständen habe ich keine Kraft mehr.
Was bleibt, ist zu beten
Meine Mutter macht sich jeden Tag Sorgen um mich – was, wenn mich die Taliban eines Tages entführen? Oder mir sonst etwas Schlimmes passiert?
Manchmal überlege ich mir, ob auch ich mein Land verlassen soll. Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen. Nur: Habe ich überhaupt eine Wahl?
Mein Herz ist gebrochen. Ich kann nur beten, dass aus Afghanistan irgendwann in der Zukunft wieder ein einigermassen freies Land werden kann.
*Name geändert