Der Andrang vor dem Landgericht Braunschweig ist am Freitagmorgen riesig. Dutzende Kamerateams und Reporter sind gekommen, um den Prozessauftakt gegen Christian B.* (47) zu verfolgen. Vor dem Gebäude bilden sich lange Schlangen, vor dem Betreten des Gerichtssaals mussten sich alle Besucher sowie Medienvertreter aufwendigen Sicherheitsmassnahmen unterziehen. Wegen des grossen Interesses verzögert sich zunächst der Verhandlungsbeginn.
Aber: Bevor der Prozess überhaupt richtig losgeht, ist er auch schon vorbei: B.s Verteidiger, Friedrich Fülscher (39), stellt den Antrag, Schöffin Britta T.-D.* auszutauschen – die ehrenamtliche Richterin sei befangen. Grund sollen Tweets von 2019 sein, in denen sie den Tod des brasilianischen Ex-Präsidenten Javier Bolsonaro (68) aufgrund der Waldbrandkrise gefordert hätte. Ein Blick auf ihren Channel zeigt: Die Posts sind weiterhin einsehbar. So hat sie nicht nur gegen Bolsonaro geschossen, sondern auch gegen Hobbyjäger und Zahnarzt Walter James Palmer, der den Löwen Cecil erschoss – sowie gegen Donald Trump und dessen Tochter Ivanka. Weiter bringt Verteidiger Fülscher ihre Tätigkeit als Kinderphysiotherapeutin ins Spiel: Dadurch stehe sie in einer speziellen Beziehung zu Kindern und sei somit wohl eher parteiisch.
Strafbare Tweets?
Die Staatsanwältin Ute Lindemann stimmt dem Antrag zu. Sie betont, dass es auch für die Staatsanwaltschaft wichtig sei, dass in diesem Verfahren alles korrekt laufe. Das Argument, dass die Schöffin Britta T.-D. aufgrund ihres Jobs parteiisch sei, sei für die Staatsanwaltschaft nicht relevant. «Viele haben Kinder oder mit Kindern zu tun. Somit käme wohl jeder zweite nicht infrage.» Relevant seien jedoch ihre Tweets. Lindemann: «Der Antrag ist begründet» Und: «Äusserungen ausserhalb der Rechtsordnung und Aufrufe zu Straftaten, Mord und Totschlag dulden wir nicht! So jemand kann nicht Richterin sein, auch keine ehrenamtliche.»
Der Prozess wird erst nächste Woche weitergeführt. Zudem soll ein mögliches Verfahren gegen die Schöffin geprüft werden, weil sie zu Gewalttaten aufgerufen hatte.
Schwere Vorwürfe
Der Monsterprozess gegen Christian B. ist auf 29 Tage angesetzt. Es geht dabei nicht um den das kleine Mädchen Madeleine McCann, das 2007 aus einer portugiesischen Ferienanlage verschwunden ist und wahrscheinlich getötet wurde. Trotzdem könnte der Prozess zu einer Vorentscheidung für eine mögliche Anklage im bisher ungelösten Vermisstenfall werden. Denn die Belastungszeugen im aktuellen Prozess spielen auch eine wichtige Rolle im Maddie-Fall.
Die aktuelle Anklage: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig wirft Christian B. in drei Fällen schwere Vergewaltigung und in zwei Fällen sexuellen Missbrauch von Kindern vor. Seine Opfer: Mädchen und Frauen im Alter von 10 bis etwa 80 Jahren. Die vorgeworfenen Taten soll der Deutsche zwischen Dezember 2000 und Juni 2017 in Portugal begangen haben. Die Anklageschrift ist über 100 Seiten lang. Blick ist ebenfalls im Gerichtssaal und liefert regelmässige Updates.
Opfer blieben unbekannt
Für die ersten zwei Fälle wird in der Anklage kein genauer Tatzeitpunkt genannt – nur ein Zeitraum von 2000 bis 2006. Auch die Opfer sind unbekannt. Dafür soll Christian B. seine Taten selbst gefilmt haben: Im ersten Fall habe Christian B. eine ältere Dame maskiert in deren Schlafzimmer überrascht. Dort habe er sie gefesselt, ausgepeitscht und vergewaltigt. Im zweiten Fall soll er eine deutschsprachige Jugendliche an einen Holzpfahl gefesselt haben. Er habe sie ausgepeitscht und zum Oralverkehr gezwungen.
Sein drittes Opfer hat B. laut Anklage im Juni 2004 mit einem Messer und maskiert in ihrem Apartment überrascht. Er habe die 20-jährige Irin vergewaltigt, geknebelt und gefesselt. Dann habe er sie ausgepeitscht und ebenfalls zum Oralverkehr gezwungen. Auch diese Tat soll B. gefilmt haben. Drei Jahre später habe er dann an einem Strand vor einer Zehnjährigen masturbiert und sie gezwungen, ihm zuzuschauen. Im Jahr 2017 soll der Deutsche dann auch vor einer Elfjährigen auf dem Spielplatz masturbiert haben, heisst es in der Anklageschrift. Die Staatsanwaltschaft hat nur wenige Beweise.
Hauptverdächtiger im Maddie-Fall
Gerade, weil Beweise eher spärlich sind, spielen Zeugen eine umso wichtigere Rolle. Allen voran Helge B.*, ein früherer Kumpel von Christian B. Ihm soll der angetrunkene Christian B. bei einem Festival 2008 gesagt haben, dass Maddie «nicht geschrien» habe. Zwar habe er das bereits 2008 den Ermittlern gemeldet, auf seinen Hinweis sei aber bis 2017 nicht reagiert worden, so der Kronzeuge. Zusammen mit Manfred S.*, dem zweiten Zeugen, habe er dem mutmasslichen Maddie-Mörder eine Videokamera gestohlen – auf dieser habe Christian B. aufgezeichnet, wie er mehrere Frauen und ein Mädchen vergewaltigt. Einziges Problem: Die Beweise konnten nie gefunden werden. Und die Zeugen haben mehrfach ihre Aussagen geändert.
Aktuell verbüsst Christian B. eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren – unter anderem wegen schwerer Vergewaltigung. Christian B. hatte im September 2005 eine damals 72-jährige US-Amerikanerin in deren Haus in Praia da Luz überfallen. Er bedrohte die Frau mit einem Krummsäbel, fesselte und vergewaltigte sie. Dann zwang er sein Opfer zur Herausgabe von Geld. Auch hier war einer der Zeugen Helge B. Allerdings gab es in diesem Fall auch DNA-Beweise. Nun muss sich B. also wegen ähnlicher Delikte erneut vor Gericht verantworten.
Und: Christian B. wird aufgrund von Zeugenaussagen und Hinweisen weiterhin in Zusammenhang mit der Entführung von Maddie gebracht. Der Deutsche lebte zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in der Region, in der das Mädchen 2007 verschwand. Auch weist er Ähnlichkeiten mit einem früher erstellten Phantombild auf. Doch die Beweiskette ist nicht geschlossen – und es gilt die Unschuldsvermutung.
Wer ist Christian B.?
Die «Bild» versuchte aber, ein Bild des Mannes zu zeichnen. Gemäss dem deutschen Blatt stammen Christian B. und sein Bruder aus schwierigen Verhältnissen. Die Mutter tat sich mit der Erziehung schwer, das Jugendamt musste eingreifen, die beiden Jungs kamen in eine Pflegefamilie. Dort sollen die beiden heftigst geschlagen – etwa ausgepeitscht – und angebrüllt worden sein. Danach kam Christian B. in ein Heim.
Christian B. hatte gemäss Medienberichten schon seit seiner Jugend immer wieder Ärger mit dem Gesetz: 1994 – im Alter von 17 Jahren – verging er sich das erste Mal an einem Kind und wurde zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt.
* Namen geändert