Ein Erdbeben ist ein Naturereignis, auf das der Mensch kaum Einfluss nehmen kann. Dennoch halten sich Verschwörungsmythen hartnäckig. Derzeit kursieren im Netz wieder wilde Theorien, wonach die Katastrophe in der Türkei und Syrien mit bislang 11'000 Todesopfern nicht auf eine Naturgewalt, sondern auf einen bewussten Anschlag zurückzuführen sei.
Der prominenteste Mythos, der derzeit die Runde macht, dreht sich um das US-amerikanische Forschungsprogramm Haarp. Das ursprüngliche Ziel des Projekts war es, die obere Atmosphäre mit Radiowellen zu untersuchen. Die im Bundesstaat Alaska befindliche Anlage verfügt dafür über einen leistungsfähigen Kurzwellen-Sender.
Die Verschwörung: Diese Anlage verfüge über die Fähigkeit, durch die starken Radiowellen Naturkatastrophen herbeizuführen – und tue das im Auftrag der US-Regierung. So ist Haarp die Schuld für einige Erdbeben wie die Nuklearkatastrophe von Fukushima zugewiesen worden. Ein Zusammenhang konnte indes nie nachgewiesen werden.
Ist so etwas überhaupt möglich? Philipp Kästli (49) widerspricht. Der Seismologe vom Schweizerischen Erdbebendienst der ETH Zürich sagt: «Der Haarp-Mythos ist wissenschaftlich gesehen völlig haltlos.»
Offene Frage regt Mythos an
Dass sich solche Mythen um Erdbeben ranken, ist allerdings wenig überraschend. «Bei einem Erdbeben stellen sich zwei Fragen», sagt Kästli. «Woher kommt die Energie, die beim Beben freigesetzt wird? Und warum ereignet sich ein Erdbeben zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort?» Die Wissenschaft kann die erste Frage beantworten: Ursache von Erdbeben sind Kontinentalplatten, die sich verschieben. «Beim Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet verschob sich die arabische Platte gegenüber der anatolischen Platte.» Diese Verschiebungen kann man mit GPS-Signalen deutlich messen.
Anders sieht es bei der Frage nach dem genauen Wann und Wo aus. «Diese lässt sich kaum beantworten. Ansonsten könnte man Erdbeben vorhersagen», sagt der Seismologe. «Ein Erdbeben wird etwa dann ausgelöst, wenn die Spannung auf einer Verwerfung die Widerstandskraft des schwächsten Gesteinskorns übersteigt.» Dann breche ein kleines Stück Gestein. Der Effekt: Es entwickelt sich eine Dynamik, die zum Erdbeben führt. «Beim Erdbeben vom Montag ist das entlang der rund 200 Kilometer langen südostanatolischen Platte geschehen.» Wo sich hier das schwächste Gesteinskorn befinde, könne man nicht im Voraus sagen. Solche Rätsel locken Skeptiker. «Weil sich diese Frage nicht beantworten lässt, eignet sie sich gut, um sich Verschwörungsmythen auszudenken», sagt Kästli.
Erdbeben-Waffen undenkbar
Die Radiowellen der Haarp-Anlage können kein Erdbeben auslösen: «Diese kurzwelligen Radiowellen gehen nicht sonderlich gut durch den Boden.» Zwar werden Kurzwellen auch in den Geowissenschaften zur Analyse des obersten paar Meter des Bodens eingesetzt, erklärt Kästli, allerdings können sie nie bis in Tiefen von 20 Kilometer dringen, wo die Beben im syrisch-türkischen Grenzgebiet ihren Anfang nahmen. Solche Wellen können auch kein Gestein zerbrechen. «Dass Radiowellen einen relevanten Effekt auf Erdbeben haben, ist daher auszuschliessen.»
Generell sei der Faktor Mensch bei Erdbeben sehr gering: «Erdbeben haben im Vergleich mit anderen Naturkatastrophen wie Waldbrände oder Klimaveränderungen am wenigsten mit dem Handeln des Menschen zu tun.»
Allerdings sei es schon möglich, dass der Mensch die Spannungsverhältnisse im Untergrund beeinflusst: «Zum Beispiel verändert das Füllen und Leeren von grossen Stauseen die Last auf der Erdkruste. Ähnlich sieht es auch bei der Gewinnung von Erdöl oder bei der Tiefengeothermie aus, die ebenfalls zu Spannungsveränderungen im Untergrund sowie zur Änderung der Haftreibung zwischen Gesteinsmassen führen und Erdbeben auslösen können.»
Dabei sei aber eine Sache zu beachten: «Der menschliche Effekt beeinflusst vor allem den Zeitpunkt der Entladung einer bereits bestehenden Spannung.» Somit könne es früher oder später zu einem Beben können. Worüber der Mensch laut Kästli aber gar keine Macht hat: die Tatsache, dass überhaupt Beben stattfinden.