Türkei war eigentlich auf die Naturkatastrophe vorbereitet
Das Horror-Beben erschüttert Erdogans Macht

Bis zu den Parlaments- und Regierungswahlen sind es nur drei Monate. Zu wenig Zeit für den türkischen Präsidenten, sich als Katastrophenmanager zu profilieren. Recep Tayyip Erdogan wird sich der Frage stellen müssen: Warum kollabierten fast 4000 Häuser beim Beben?
Publiziert: 07.02.2023 um 20:21 Uhr
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Aktualisiert: 07.02.2023 um 22:57 Uhr
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht zum Volk und verspricht schnelle Hilfe im Katastrophengebiet.
Foto: Anadolu Agency via Getty Images
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Ein Tag nachdem Erdstösse im Südosten seines Landes für Tod und Verwüstung gesorgt hatten, spricht Recep Tayyip Erdogan (68) vom schwersten Beben seit 1939, das damals 33'000 Todesopfer forderte. Auch das verheerende Beben von 1999, bei dem 17'000 Menschen starben, stellt der türkische Präsident hinter die Katastrophe von Sonntagnacht. Erdogan ruft eine einwöchige Staatstrauer aus. Türkische Fahnen aller Vertretungen im In- und Ausland werden auf halbmast gehisst, schnelle Hilfe wird versprochen.

Am 14. Mai 2023 werden die Grosse Nationalversammlung der Türkei und der Präsident gewählt. Recep Tayyip Erdogan tritt erneut fürs höchste Amt an. Selbstbewusst hatte er Ende Januar noch den Wahltermin um einen Monat vorgezogen. Eine Entscheidung, die er jetzt bereuen könnte.

Das Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Lira fiel am Montag auf Rekordtief zum US-Dollar. Die Inflation galoppiert. Die Stimmung im zunehmend diktatorischen Staat ist bedrückt. Jetzt erschüttert ein Jahrhundertbeben das Land am Bosporus. Und auch Erdogans Machtapparat gerät ins Wanken. «Vor allem die wirtschaftliche Lage wird sich verschlimmern», sagt Nahost-Experte Ali Sonay von der Uni Bern gegenüber Blick TV.

An schnelle Hilfe ist vielerorts nicht zu denken

Knapp 4000 Gebäude brachen unter den Erdstössen zusammen – und noch immer kollabieren Häuser bei den anhaltenden Nachbeben. Mittlerweile liegt die Zahl der Toten bei über 3500 und über 22'000 Verletzten. Tendenz steigend. Spitäler sind überfüllt, Flughäfen, Strassen, Brücken beschädigt. Der Hafen von Iskenderun brennt. An schnelle Hilfe ist vielerorts nicht zu denken. Ein Wiederaufbau würde Jahre dauern. Bis zum Mai kann Erdogan keine Wunder vollbringen. Doch die ersten bohrenden Fragen werden bereits gestellt.

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Immer wieder wird die Türkei von schweren Erdbeben erschüttert. Jedes Mal mit hohen Verlusten. Der Staat hatte daher eine Sondersteuer für Gebäudeschutz eingeführt. Seit 20 Jahren zahlen die Türkinnen und Türken 7,5 Prozent Erdbebensteuer. So kamen umgerechnet mehrere Milliarden Franken zusammen.

Kritiker befürchten, das Geld sei nie zielgerichtet investiert worden. Nach Angaben der Oppositionspartei CHP ist mindestens die Hälfte in den allgemeinen Staatshaushalt geflossen. Denn auch beim aktuellen Beben stürzten Bauten wie Kartenhäuser zusammen. Es seien keine ausreichenden Massnahmen zur Bewältigung dieses bekannten Risikos ergriffen worden, kritisiert der Nationalkongress Kurdistan (KNK).

«Die Auswirkungen dieses verheerenden Erdbebens werden durch die allgegenwärtige Korruption verstärkt, die in den zwei Jahrzehnten der Herrschaft von Recep Tayyip Erdogan und seiner Partei institutionalisiert wurde», so der KNK weiter gegenüber ANF News. Ministerien und andere Regierungsstellen würden durch Vetternwirtschaft und Loyalität gegenüber Erdogan vergeben.

Hohe Korruptionsrate in der türkischen Baubranche

Und Huseyin Alan, Vorsitzender der türkischen Kammer für Ingenieurgeologie, wettert im «Spiegel»: «Keines der Ämter, weder das Präsidialamt noch die lokalen Verwaltungen, haben unseren Bericht zur Kenntnis genommen, in dem wir auf die Notwendigkeit von Bodenuntersuchungen vor dem Bau von Gebäuden hingewiesen haben». In der ARD-Talkshow «Hart aber fair» fordert TV-Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar (63) mehr Einsicht von der Türkei, «Neubauten wirklich erdbebensicher zu bauen und Altbauten nachzurüsten». Die türkische CDU-Politikerin Serap Güler (42) spricht derweil über die hohe Korruptionsrate in der türkischen Baubranche.

Um beim Wahlvolk zu punkten, muss sich Präsident Erdogan nun als omnipotenter Katastrophenmanager profilieren. Das geht nicht ohne finanzielle und tatkräftige Hilfe des Westens. Über 50 Länder haben sofort ihre Unterstützung zugesagt, darunter Staaten, die Erdogan bis vor Kurzem noch bekämpfte. Auch das könnte die Machtposition des Diktators schwächen, der aus innenpolitischen Gründen gern gegenüber EU und Nato die Muskeln spielen liess.

Politische Erzrivalen bieten Erdogan ihre Hilfe an

So waren gerade verhasste Amtskollegen die ersten, die der Türkei ihre Hilfe anboten. Vorneweg der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis (54). Noch im Dezember hatte Erdogan seinem Nachbarn im Streit um Gasbohrungen im Mittelmeer mit einem Raketenangriff gedroht. Die sogenannte «Erdbebendiplomatie» könnte jetzt die Wogen glätten.

Nato-Anwärter Schweden führt nicht nur den Vorsitz im EU-Rat, sondern auch das Wort, wenn es um EU-Hilfsmittel geht. Schwedens Premier Ulf Kristersson (59) sagte der Türkei, die bislang den Nato-Beitritt boykottierte, sofortige Hilfe zu. US-Präsident Joe Biden (80) sprach Erdogan im Namen des amerikanischen Volkes sein Beileid aus und versprach humanitäre Hilfe sowie die Entsendung von Rettungsteams. Die neue grosse Verbrüderung könnte seinen Preis haben – zum Beispiel das türkische Ja zu Schwedens und Finnlands Nato-Beitritt.

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