2022 wurde die EU heftig durchgeschüttelt. Ein Korruptionsskandal im Parlament schockierte die Mitgliedstaaten, nach rechts abdriftende Länder gehen zu Brüssel auf Distanz, und der Krieg in der Ukraine sorgte für Angst und Energieprobleme.
Gilbert Casasus (66), emeritierter Professor für Europastudien, bezeichnet 2022 dennoch als «kein schlechtes Jahr» für die EU. Denn gerade der Krieg habe die EU-Staaten zusammengeschweisst. Zudem sei es der EU mit einem Corona-Hilfsplan gelungen, Solidarität zu zeigen. Für SonntagsBlick zieht er Bilanz.
Parlament im Korruptionssumpf
«Das EU-Parlament, das sich selber gerne als vorbildlich bezeichnet, erlebt die schlimmste Krise seit seiner Existenz bzw. seit seiner ersten Direktwahl im Jahre 1979. Der Korruptionsskandal, bei dem sich offenbar mehrere Parlamentarierinnen und Parlamentarier für gute Katar-PR bestechen liessen, ist auf eine Arbeitsordnung zurückzuführen, die zu sehr unter dem direkten Einfluss von Lobbyisten steht.
Als Profiteure nützen sie die Schwachstellen eines politischen Gremiums aus, das als Lehrmeister stets versuchte, den anderen, das heisst der Kommission oder dem Ministerrat, die Schuld in die Schuhe zu schieben. Deswegen wird eine Reform des Europäischen Parlaments unabdingbar.»
Ärger mit der Schweiz
«Nach der einseitigen Kündigung des Rahmenabkommens am 26. Mai 2021 hat es mehr als ein Jahr gedauert, bis es 2022 zu einer vorsichtigen Annäherung zwischen der Schweiz und der Europäischen Union kam.
Eine Neuauflage einer aktualisierten Vorlage oder der vertraglichen Vereinbarungen hinsichtlich eines neuen Abkommens steht nicht unmittelbar bevor, da sie sowohl von unterschiedlichen Standpunkten und Interessen der EU-Mitgliedstaaten als auch vom Ausgang der Schweizer Nationalratswahlen im Oktober 2023 abhängig sind. Beide Kontrahenten befinden sich erst am Anfang eines Verhandlungsprozesses, der frühestens 2024 durch einen erfolgreichen Abschluss gekrönt werden kann.»
Schwindende Freundschaft
«Im Vorfeld des 60. Jahrestages der Unterzeichnung des Élysée-Freundschafts-Vertrages am 22. Januar 1963 machen sich einige Meinungsunterschiede zwischen Berlin und Paris bemerkbar. Der deutsch-französische Motor gerät ins Stocken, und die beiden Führungsländer Europas stehen bei wichtigen Europafragen im Clinch.
Die Prager Rede von Olaf Scholz (64) zur Stärkung der EU am 29. August 2022 sorgte in Paris für Unmut und liess den Verdacht aufkommen, Berlin wolle nun einen eigenwilligen Europakurs bestimmen, der sich von den Grundlagen der deutsch-französischen Zusammenarbeit schrittweise verabschiedet. Eine Krise der deutsch-französischen Beziehungen würde der EU nachhaltig schaden.»
Führungsschwaches Europa
«Seit dem Rücktritt von Angela Merkel (68) als deutsche Kanzlerin fehlt der EU eine Führungsfigur. Am meisten Chancen dazu hatte der französische Präsident Emmanuel Macron (45), dem sich Anfang Jahr eine ausserordentlich vorteilhafte Ausgangsposition bot: Frankreich hatte die Ratspräsidentschaft der EU inne, seine Wiederwahl galt als sicher, und er vermittelte zwischen Russland, der Ukraine und der EU. Zudem musste er von Olaf Scholz keine Konkurrenz fürchten.
Aber es kam anders als gedacht: Die EU-Ratspräsidentschaft war mit seiner Wahlkampagne kaum vereinbar, seine Vermittlungsversuche im Ukraine-Krieg scheiterten, und eine fehlende Mehrheit im französischen Parlament macht ihn innen- und aussenpolitisch verwundbar.»
Alarmzeichen aus Italien
«Italien gilt in den Augen von Politologen als ein europäisches Labor. Vieles, was dort geschah, hat sich später in Europa am Beispiel der Parteienkrise der 1990er-Jahre in vielen (Nachbar-)Staaten bewahrheitet. Obwohl Italien bis zum Sommer 2022 über eine seiner besten Regierungen aller Zeiten verfügte, hat sich das Land im September für eine rechte bis rechtsextremistische Koalition entschieden.
Ein Erfolg der rechten und restriktiven Migrationspolitik könnte weitreichende Folgen für die EU haben. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (45), die für ihre antieuropäischen Parolen bekannt ist, zeigt sich allerdings gegenüber der EU kompromissfähig, um zugunsten ihres Landes die fast 200 Milliarden Euro aus dem europäischen Corona-Hilfsfonds zu kassieren.»
Rechte auf dem Vormarsch
«Nicht nur in Italien sind Rechtsparteien im Aufwind: In Ungarn konnte Viktor Orban (59) seine Zweidrittelmehrheit behalten, Marine Le Pen (54) erzielte bei den französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ein Rekordergebnis, und in Schweden nehmen die Schwedendemokraten als jetzt zweitstärkste Partei Einfluss auf die Regierung.»
Putins Krieg
«Das grösste Ereignis für die EU war 2022 der Krieg in der Ukraine. Doch gerade diese Krise trägt zur Stärkung der EU bei. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin (70) ist es nicht gelungen, Europa zu spalten. Seit Kriegsausbruch hat die EU fast einstimmig – mit Ausnahme Ungarns – Stellung zugunsten der Ukraine genommen und sich erneut als weltpolitischer Akteur profiliert.
Die EU hat diese schwierige Bewährungsprobe mit Bravour gemeistert und im Vergleich zum Balkankrieg der 1990er-Jahre ihre Solidarität gegenüber Kiew und ihre Einheit unter Beweis gestellt.»
So müsste ein neuer EU-Vertrag aussehen
Gilbert Casasus hält es für zwingend, dass die EU über einen neuen Vertrag diskutiert, denn: «Der aktuelle Lissabon-Vertrag ist den heutigen europäischen Herausforderungen nicht mehr gewachsen.»
Ein neuer EU-Vertrag müsste folgende Aspekte berücksichtigen:
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Zuerst die EU stärken, um danach neue Beitrittsländer zu empfangen. Auch der Rauswurf eines Staates müsste möglich sein.
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Schaffung einer «Europäischen Politischen Gemeinschaft».
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Aneignung neuer Kompetenzen in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Energie, Transport und Infrastruktur.
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Schaffung einer europäischen Verteidigungspolitik.
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Neugestaltung der Europawahlen und Aufstellung von transnationalen Listenverbindungen.
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Einführung einer zweiten legislativen Kammer mit Abgeordneten der Mitgliedstaaten.
Casasus bilanziert: 2022 möge vielleicht kein gutes Jahr für die EU gewesen sein, es sei aber im Vergleich viel besser als die Jahre der Euro- und Griechenlandkrisen bzw. des Jahres 2016, als Boris Johnson und Donald Trump (76) als «Männer der Stunde» galten. Casasus: «Historisch betrachtet wurde im Jahre 2022 ein ‹Zerfall der Europäischen Union› nie in Erwägung gezogen!»