An der letzten Session war die Deutsch-Schweizerische Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestags zu Besuch in Bern. Deren Mitglieder trafen unter anderen Nationalratspräsident Martin Candinas (42), Wirtschaftsminister Guy Parmelin (63) und Staatssekretärin Livia Leu (61). Blick traf den Vizevorsitzenden der Gruppe, Gregor Gysi (74), im Bundeshaus. Der Bundestagsabgeordnete aus Ostberlin war einst Vorsitzender der PDS, der Vorläuferpartei von Die Linke.
Blick: Herr Gysi, Sie trafen unseren Nationalratspräsidenten, den Wirtschaftsminister, den Bahnchef und Staatssekretärin Livia Leu. Was nehmen Sie für Eindrücke mit?
Gregor Gysi: Ganz unterschiedliche. Dass direkt vor dem Bundeshaus ein Markt stattfindet, wäre vor dem Reichstag in Berlin undenkbar. Und natürlich, dass Ihr politisches System ganz anders ist.
Das wussten Sie wohl schon vorher, nicht?
Schon, aber dass beide Kammern, also Ihr Ständerat und Ihr Nationalrat, zusammen die Minister wählen, ist ungewöhnlich für mich. Unser Bundesrat, also unsere Ländervertretung, und der Bundestag, haben da nichts zu sagen. Der Bundestag allein wählt die Kanzlerin oder den Kanzler.
Und der Kanzler schlägt dann die Minister vor.
Genau und der Bundespräsident ernennt die Ministerinnen und Minister. Im Bundesland Berlin war das mal anders. Da wurde wie in der Schweiz jeder Minister einzeln gewählt. Aber das hat man abgeschafft. Schade, finde ich.
Es würde uns wundern, wenn die EU in den Gesprächen kein Thema gewesen wäre.
Ja, sie war Thema. Als Bundestagsabgeordneter bin ich natürlich dafür, dass die Schweiz ihre Beziehungen zur EU vertraglich regelt. Nachdem die Verhandlungen mit Brüssel abgebrochen worden waren, klang Ihre Staatssekretärin nun so, dass es langsam wieder in Richtung neue Verhandlungen gehen könnte.
Und dennoch sieht es bislang nicht wirklich danach aus, als ob man bald in tatsächliche Verhandlungen einsteigen dürfte.
Sehen Sie: Die EU scheut sich, ein Moratorium zu verhängen, weil sie befürchtet, später von der Schweiz wenig zu kriegen. Das zeigt doch: Man will auch etwas von der Schweiz. Ich habe aber Verständnis dafür, dass Ihr Land Zugeständnisse beim Lohnschutz verlangt. Wenn Änderungen das ökonomische Gefüge ins Ungleichgewicht brächten, kann die Schweiz das nicht zulassen. Aber es müsste doch möglich sein, dass die EU und die Schweiz sich darauf verständigen, wo man Partner sei und wo nicht.
Der Berliner Gregor Gysi (74) war der letzte Vorsitzende der herrschenden DDR-Partei SED und der erste der PDS, aus der Die Linke hervorging. Der für seine Rhetorik bekannte Rechtsanwalt und Bundestagsabgeordnete war eine der zentralen Figuren der deutschen Wiedervereinigung. Gysi ist ein Nachkomme des Seidenfärbers Samuel Gysin, der im 18. Jahrhundert aus Läufelfingen BL nach Berlin auswanderte.
Der Berliner Gregor Gysi (74) war der letzte Vorsitzende der herrschenden DDR-Partei SED und der erste der PDS, aus der Die Linke hervorging. Der für seine Rhetorik bekannte Rechtsanwalt und Bundestagsabgeordnete war eine der zentralen Figuren der deutschen Wiedervereinigung. Gysi ist ein Nachkomme des Seidenfärbers Samuel Gysin, der im 18. Jahrhundert aus Läufelfingen BL nach Berlin auswanderte.
Einige in der EU wollen nach wie vor, dass die Beziehungen mit der Schweiz am Schluss in einen Beitritt münden. Es ist aber zweifelhaft, ob eine Mitgliedschaft in unserer Bevölkerung mehrheitsfähig wäre.
Ich war immer der Auffassung, alle europäischen Länder sollen irgendwann mal Mitglied der EU werden. Gut, wenn ich jetzt an Russland denke, dann liegt das in weiter Ferne. Werde ich bestimmt nicht mehr erleben, aber ist ja auch egal. Doch es gibt ein Aber.
Nämlich?
Die Schweiz sollte nicht Mitglied der EU werden.
Wollen Sie uns nicht?
Es geht darum, dass es immer eine Ausnahme geben muss. Man weiss heute nicht, ob die EU dereinst in Europa ein Nicht-Mitglied benötigt. Das kann für Asien wichtig sein, für Afrika, für Amerika. Das kann man vorher nicht wissen. Darauf sollte man vorbereitet sein, zeigt meine Lebenserfahrung. Darum hätte ich Verständnis dafür, wenn die Schweiz nie Mitglied würde.
Weshalb muss die Schweiz die Ausnahme sein?
Weil sie immer eine Ausnahme war. Und weil sie über 200 Jahre keinen Krieg mehr hatte. Weil sie neutral ist.
War die EU auch das einzige Thema bei den Treffen – beispielsweise mit Bundesrat Guy Parmelin?
Nein, mit Ihrem Wirtschaftsminister Guy Parmelin haben wir über die Hochschulen gesprochen, die ja teilweise auch vom Bund mitfinanziert werden. Und beim Nationalratspräsidenten Candinas war die Bahn Thema – wie auch bei SBB-Chef Vincent Ducrot.
Man weiss nie, wer der grössere Bahnfan ist, Candinas oder Ducrot.
Dafür funktioniert bei Ihnen die Bahn in der Regel bestens. Hier interessiert es mich, weshalb das so ist. Ich denke, es hat damit zu tun, dass die Schweizer und die Deutsche Bahn ganz unterschiedlich finanziert werden. Sie haben fixe Fonds, aus denen das Geld kommt. Bei uns bestimmt der Bundestag jedes Jahr wieder neu über das Geld. Eine Bahn-Planung über Jahre, ja Jahrzehnte, wie bei Ihnen gibt es so bei uns gar nicht. In Deutschland machen sie es so, wie es ihnen gerade einfällt.
Auch bei uns ist nicht alles optimal. Oft wollen die Parlamentarier noch dieses oder jenes zusätzlich fürs Bahnnetz in ihrer Herkunftsregion herausholen. Aber was meinen Sie?
Wenn man in Deutschland aus dem Bahnhof tritt, hört das Bahnsystem auf. In der Schweiz bildet das Verkehrssystem eine Einheit. Die weiterführenden Busse sind auf die Bahnverbindungen abgestimmt. Die meisten Energiequellen gehören der Bahn. So weit sind wir noch nicht. Aber ich hätte fast noch etwas ganz anderes Wichtiges vergessen.
Was denn?
Ich hab bei den Treffen gefragt, ob sich die Schweiz nicht als Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine engagieren könnte. Schliesslich fallen Schweden und Finnland als baldige Nato-Mitglieder hier ja aus. Und Erdogan scheint mir nicht der richtige Vermittler zu sein.
Hier dürften Sie auf zustimmende Zurückhaltung gestossen sein. Nicht?
Als Antwort habe ich erhalten, dass Russland die Schweiz derzeit nicht als neutralen Vermittler anerkenne, weil sich Ihr Land den EU-Sanktionen angeschlossen hat. Auch wieder interessant! Aber irgendjemand muss die Vermittlung ja machen. Offenbar hat es nicht genügt, dass die Schweiz Deutschland untersagte, die Schweizer Panzer-Munition an die Ukraine weiterzuliefern. Irgendwann wird sich Moskau aber vielleicht daran erinnern. Sie sehen, genau für solche Fälle braucht es die Ausnahme Schweiz.