Nein zum Rahmenabkommen – eine Analyse
Nur ein Vertrag, der die Schweiz schützt, hat eine Chance

Maros Sefcovic, Vize der EU-Kommission, will noch im Juni nach Bern kommen, um die bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU wieder in Gang zu bringen. Das wird nicht reichen.
Publiziert: 28.05.2022 um 01:32 Uhr
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Aktualisiert: 28.05.2022 um 11:00 Uhr
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Vor einem Jahr hat der Bundesrat das Rahmenabkommen versenkt. Im Bild: Bundespräsident Guy Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Foto: EPA
Richard Werly

Maros Sefcovic (55) setzt seine Hoffnungen in den Berner Frühling, um die stockenden Gespräche zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wieder in Gang zu bringen. Die Tatsache, dass der Vizepräsident der Europäischen Kommission anbietet, im Juni nach Bern zu kommen, ist an sich eine gute Nachricht.

Denn sie bedeutet: Die Zeit der Kränkung ist vorbei, nachdem der Bundesrat das Rahmenabkommen versenkt hatte. Nach den ergebnislosen Besuchen der Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu (61) in Brüssel in den letzten Monaten gibt es jetzt also wieder ausgestreckte Hände auf beiden Seiten. Die Frage ist nun: Wie kann man die bilaterale Flamme wieder entfachen?

Zwei offene Fragen

Auf diese Antwort wartet die EU-Kommission seit einem Jahr. Geben muss sie die Schweiz. Die Brüsseler Argumentation ist logisch: Da der Bundesrat die Tür zugeschlagen hat, ist es an ihm, sie wieder zu öffnen, wenn möglich mit einem Plan B. Medien, der EU-Botschafter in der Schweiz, Petros Mavromichalis (58), proeuropäische Aktivisten, Akademiker und alle, die mit diesem vergifteten bilateralen Dossier vertraut sind, sind sich darin einig.

Nur kommt aus Bern nichts. Ausser diplomatischen Verrenkungen, die weit entfernt sind von den zwei Problemen, die zuvor gelöst werden müssen:

  1. einen Weg zu finden, um den Schweizer Gewerkschaften glaubwürdigen Lohnschutz zuzusichern und so «Sozialdumping» zu vermeiden;
  2. sicherzustellen, dass die Kontrollinstanz eines Abkommens nicht vollständig in den Händen der Richter des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg liegt.

Im Klartext: Jedes Abkommen, das nicht als «Schutz» der sozialen und rechtlichen Interessen der Schweiz angesehen wird, hat keine Chance.

Es braucht eine neue Idee

Der Slowake Sefcovic muss wissen, dass es keinen Sinn hat, nach Bern zu kommen, ohne mindestens eine Idee in der Tasche zu haben, die alles verändern könnte. Eine Idee, die zunächst das politische Klima verändern könnte, indem sie zeigt, dass die Entscheidung des Bundesrats, die EU-Sanktionen gegen Russland umzusetzen, sowie das Schweizer Ja zum Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex in Brüssel berücksichtigt wurden.

Eine Idee, die den europäischen Willen beweisen würde, mit der Schweiz eine chaotische und schmerzhafte Brexit-Entwicklung zu vermeiden. Eine einfache, allgemeinverständliche Idee, die der Schweizer Öffentlichkeit nach drei Jahrzehnten bilateralen Beziehungen und rund 100 komplexen, aber effizienten bilateralen Abkommen «verkauft» werden kann.

Eine etwas andere Konferenz

Sefcovic muss sich nur bücken, um diese Idee zu finden. Sie liegt vor seinen Füssen. Am Montag findet an der Universität Genf eine Konferenz zur Zukunft Europas statt. Das könnte man sich zum Vorbild nehmen: eine Konferenz über die Zukunft der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz mit Parlamentarierinnen, Gewerkschaftsvertretern, Unternehmerinnen, Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, Juristen und Bürgerinnen, die per Los ausgewählt werden.

Sie sollte vier einfache Fragen beantworten:

  1. Welcher Teil der bestehenden bilateralen Abkommen funktioniert nicht mehr?
  2. Welche Garantien gibt es für die Schweizer Souveränität?
  3. Welche Verpflichtungen bestehen für den Zugang zum europäischen Markt?
  4. Wie regelt man Anpassungen, die nötig sind, um den Entwicklungen in der Welt gerecht zu werden?

Das Ergebnis muss bis zum 26. Mai 2023 vorliegen. Genau in einem Jahr und zwei Jahre, nachdem der Bundesrat das Rahmenabkommen abgelehnt hat.

Diplomatisches und politisches Scheitern

Sowohl in Brüssel als auch in Bern ist es an der Zeit, dass Diplomaten und Politiker ihr Versagen eingestehen. Die Chemie, die durch ihre endlosen Verhandlungen entstanden ist, ist negativ. Lassen wir also diese Schweiz-EU-Konferenz von Persönlichkeiten leiten, die in der Lage sind, Klartext zu reden. Wie wäre es mit alt Bundesrat Pascal Couchepin (80) auf Schweizer Seite? Und der ehemaligen EU-Kommissarin Viviane Reding (71) auf europäischer Seite – oder gar Angela Merkel (67)?

Ein Jahr nachdem der Bundesrat die Tür zu Europa am 26. Mai 2021 zugeschlagen hat, muss die Idee, die alles verändern kann, eine gemeinsame Obsession sein. Herr Sefcovic, kommen Sie nicht mit leeren Händen und ohne Ambitionen nach Bern, um den Schweizern eine Predigt zu halten. Das würde nichts nützen.

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