So krass war die Explosion in Beirut
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Ein Jahr danach:So krass war die Explosion in Beirut

Ein Jahr nach der Katastrophe im Hafen von Beirut liegt der Libanon am Boden
«Die Explosion wirkte wie ein Brandbeschleuniger»

Ein Jahr nach der Katastrophe von Beirut ist die einstige «Schweiz des Nahen Ostens» zerstört. Nichts geht – auch eine Regierungsbildung ist mehrmals gescheitert. Blick zeigt, wie den Ärmsten geholfen wird und wie das Land aus der Krise kommen könnte.
Publiziert: 04.08.2021 um 00:29 Uhr
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Aktualisiert: 04.08.2021 um 14:36 Uhr
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Vor einem Jahr flogen in Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft.
Foto: DUKAS
Guido Felder

Der 4. August 2020 hat den Libanon verändert. Eine Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut riss den kleinen Staat – einst die Schweiz des Nahen Ostens genannt – noch tiefer in die Krise. Bei der Explosion vor einem Jahr starben 215 Menschen, 6500 wurden verletzt, 300’000 verloren Haus oder Wohnung. Ein grosser Teil des Hafens wurde zerstört.

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Zur Katastrophe kam es wegen Schweissarbeiten. Schuldige für die Explosion sind bisher nicht gefunden. Viele Libanesen bezeichnen die Regierung und die herrschende Elite als für die Explosion verantwortlich und werfen ihnen Nachlässigkeit im gebeutelten Land vor. Auch ein Jahr nach der Explosion stehen die Ruinen des Silos immer noch.

Ein bankrottes Land

Malte Gaier (37), Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Beirut, sagt zu Blick: «Das Land ist bankrott. Bei Wasser und Strom gibt es Versorgungsprobleme, vor Tankstellen bilden sich lange Schlangen. Es herrschen hier mittlerweile Verhältnisse, wie wir sie aus Venezuela, Simbabwe und anderen Krisenländern kennen.»

Der rasante Absturz begann schon vor der Explosion, als die Banken im Herbst 2019 zwei Wochen schlossen, weil viele Anleger ihr Geld abheben wollten. Das libanesische Pfund hat inzwischen 95 Prozent an Wert eingebüsst. Es herrscht eine Hyperinflation (mit gigantischen Preissteigerungen) von über 150 Prozent. «Die Explosion wirkte auf die ganze Krise wie ein Brandbeschleuniger», sagt Gaier.

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Lebensmittel für die Ärmsten

Wie sehr das Land in der Krise steckt, bekommt vor allem FoodBlessed zu spüren. Die 2012 gegründete gemeinnützige Organisation, die aus rund tausend Freiwilligen besteht, sammelt Lebensmittel, die nicht mehr verwendet werden, oder kauft aus Spendengeldern neue für umfangreiche Essenspakete. Auch betreibt sie mehrere Küchen, um täglich frische Mahlzeiten zuzubereiten.

Religiöse Gruppen kämpfen um die Macht

Die politische Situation im Libanon ist äusserst instabil. Eine Regierungsbildung ist alles andere als einfach, denn die Macht muss unter den wichtigsten religiösen Gruppen aufgeteilt werden: Der Staatschef ist immer Christ, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit. Um die Machtverhältnisse auszugleichen, umfasst das Kabinett des knapp sieben Millionen Einwohner zählenden Landes bis zu 30 Minister.

Das konfessionelle Proporzsystem wurde nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs von 1990 eingeführt. Was zwar gut gemeint ist, führt zu Korruption und Machtkämpfen, denn die Eliten beuten das Volk aus und wirtschaften in die eigene Tasche. Wichtige Infrastrukturen wie der Hafen oder Flughafen stehen unter der Kontrolle von bewaffneten Milizen und religiösen Clans. Guido Felder

Die politische Situation im Libanon ist äusserst instabil. Eine Regierungsbildung ist alles andere als einfach, denn die Macht muss unter den wichtigsten religiösen Gruppen aufgeteilt werden: Der Staatschef ist immer Christ, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit. Um die Machtverhältnisse auszugleichen, umfasst das Kabinett des knapp sieben Millionen Einwohner zählenden Landes bis zu 30 Minister.

Das konfessionelle Proporzsystem wurde nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs von 1990 eingeführt. Was zwar gut gemeint ist, führt zu Korruption und Machtkämpfen, denn die Eliten beuten das Volk aus und wirtschaften in die eigene Tasche. Wichtige Infrastrukturen wie der Hafen oder Flughafen stehen unter der Kontrolle von bewaffneten Milizen und religiösen Clans. Guido Felder

Mitgründerin und Präsidentin Maya Terro (34) sagt zu Blick: «Die Kosten für Lebensmittel sind innerhalb eines Jahres um 336 Prozent gestiegen. 55 Prozent der Bevölkerung leben inzwischen in Armut, 23 Prozent sogar in extremer Armut. Sie können sich nicht einmal mehr Lebensmittel leisten.»

Jede Woche hilft FoodBlessed 1600 Familien. Zwischen August 2020 und Januar 2021 hat die Organisation 100’000 Mahlzeiten zubereitet und 7000 Pakete verteilt.

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Windeln, Babynahrung, Medikamente

Nach der Explosion hat man die Hilfe ausgeweitet und nebst Essen auch Windeln, Babynahrung, Medikamente, Kleider und Binden verteilt. Zudem halfen die Freiwilligen, beschädigte Häuser aufzuräumen und Strassen von Trümmern zu befreien. Maya Terro: «Wir haben 30 Häuser und Wohnungen instand gestellt und so 150 Menschen geholfen.»

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Die Armut treibt viele Libanesen ausser Landes. Malte Gaier: «Eltern drängen ihre Kinder richtiggehend dazu, ihr Glück in einem anderen Land zu suchen.» Eine schlechte Entwicklung für den kleinen Staat.

Laut Weltbank steckt der Libanon in der schwersten Wirtschaftskrise seit 150 Jahren. In dieser Situation wäre eine funktionierende Regierung dringend nötig. Doch davon ist das Land weit entfernt. Nach dem Rücktritt der Regierung wegen der Hafenkatastrophe war es dem designierten Ministerpräsidenten Saad Hariri (51) im Juli nicht gelungen, ein neues Kabinett zu bilden. Nun soll es nach der Explosion im dritten Anlauf der Milliardär und zweimalige Ministerpräsident Nadschib Mikati (65) versuchen.

Armut, Corona, Korruption

Der kleine Staat kämpft auch mit anderen Problemen: Corona, Flüchtlinge, Korruption bei den Eliten sowie Versuche der islamistischen Hisbollah, verstärkt iranische Investitionen in den Libanon zu holen.

«Um das Land zu retten, braucht es internationale Hilfe», sagt Malte Gaier. Die erste Priorität wird dann auch sein, einen Reformplan Frankreichs (frühere Kolonialmacht in der Region) auszuführen. Die französische Roadmap sieht eine Regierung von Spezialisten vor, die fähig ist, Reformen umzusetzen und den Internationalen Währungsfonds einzubinden.

Doch klar ist, dass das Land nicht innert kurzer Zeit gerettet werden kann. Gaier dazu: «Das Land steckt in einer strukturellen Krise, die eine ganze Generation betrifft. Der Tiefpunkt ist noch nicht erreicht.» Auch Maya Terro sagt: «Wir befürchten, ja wir wissen, dass das Schlimmste erst noch bevorsteht. Es ist dann alles verloren, wenn auch die Hoffnung verloren ist.»

Schweizer spendeten 7,6 Millionen Franken

Die Glückskette hat für Hilfsprojekte an die Opfer der Explosion im Hafen von Beirut vor einem Jahr sechs Millionen Franken eingesetzt. Insgesamt hatte die Organisation 7,6 Millionen Franken Spendengelder erhalten. In den kommenden Monaten wird der Rest der Spenden noch weiteren Projekten zugesprochen, die sich den dringendsten Bedürfnissen der Bevölkerung widmen und in den von der Explosion am stärksten betroffenen Quartieren Unterstützung bieten. Insgesamt sollen mehr als 1400 Haushalte mit Geld und mehr als 450 Personen mit psychosozialer Betreuung unterstützt werden.

Die Glückskette hat für Hilfsprojekte an die Opfer der Explosion im Hafen von Beirut vor einem Jahr sechs Millionen Franken eingesetzt. Insgesamt hatte die Organisation 7,6 Millionen Franken Spendengelder erhalten. In den kommenden Monaten wird der Rest der Spenden noch weiteren Projekten zugesprochen, die sich den dringendsten Bedürfnissen der Bevölkerung widmen und in den von der Explosion am stärksten betroffenen Quartieren Unterstützung bieten. Insgesamt sollen mehr als 1400 Haushalte mit Geld und mehr als 450 Personen mit psychosozialer Betreuung unterstützt werden.

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