«Afghanistan braucht die Schweizer Demokratie»
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Botschafter in Genf:«Afghanistan braucht die Schweizer Demokratie»

Der afghanische Botschafter in der Schweiz arbeitet ohne Lohn weiter für sein Volk
«Die Taliban sind eine Gruppe von Gangstern»

Nasir Ahmad Andisha ist Botschafter der Republik Afghanistan in Genf. An eine Rückkehr in sein Land ist zurzeit nicht zu denken. Im Interview mit Blick verrät er, wie er den Widerstand aufbaut und warum die Schweiz für sein Land so wichtig ist.
Publiziert: 19.11.2021 um 13:22 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2021 um 13:27 Uhr
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Nasir Ahmad Andisha ist Botschafter der Republik Afghanistan in Genf.
Foto: Philippe Rossier
Guido Felder (Interview) und Philippe Rossier (Fotos)

Nach dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten haben im August in Afghanistan die Taliban innert nur weniger Tage die Macht übernommen. In Genf sitzt aber immer noch der Vertreter der vertriebenen offiziellen Regierung, Botschafter Nasir Ahmad Andisha (42), mit Angestellten in seinem Büro.

Blick verrät er, wie er mit der Exilregierung den Widerstand aufbaut, welche Rolle er für die Taliban sieht und was er den Afghanen von der Schweiz beibringen will.

Herr Andisha, im August haben die Taliban in Afghanistan die Regierung verdrängt, die Sie 2019 nach Genf geschickt hatte. Sind Sie nun Botschafter der Islamisten?
Nasir Ahmad
Andisha: Auf keinen Fall. Ich vertrete das afghanische Volk. Bei mir im Büro steht die Flagge der Republik, nicht der Taliban. Vor kurzem hatten wir hier ein Cricketmatch, an dem wir die afghanische Nationalhymne spielten. Sollten die Taliban eines Tages die alleinige Macht übernehmen und offiziell anerkannt sein, werde ich nicht mehr Botschafter sein. Wir vertreten unterschiedliche Werte.

Wer bezahlt denn jetzt Ihren Lohn und die Miete des Büros in Genf?
Ich habe zurzeit keinen Lohn. Wir zehren vom Budget und haben grosse Einsparungen vorgenommen. Mein Team zählte vor kurzem noch 16 Personen. Einige haben inzwischen gekündigt, um eine stabilere Zukunft und Existenzgrundlage zu finden, andere sind auf dem Absprung.

Ehemaliger Vize-Aussenminister

Nasir Ahmad Andisha (42) ist seit 2019 Botschafter Afghanistans in der Schweiz und gleichzeitig Vertreter seines Landes bei der Uno. Er studierte internationale Beziehungen und arbeitete unter anderem als Feldoffizier beim Internationalen Komitee des Roten Kreuz, als Botschafter für Australien, Neuseeland und Fidschi sowie von 2015 bis 2019 als Vize-Aussenminister. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Nasir Ahmad Andisha (42) ist seit 2019 Botschafter Afghanistans in der Schweiz und gleichzeitig Vertreter seines Landes bei der Uno. Er studierte internationale Beziehungen und arbeitete unter anderem als Feldoffizier beim Internationalen Komitee des Roten Kreuz, als Botschafter für Australien, Neuseeland und Fidschi sowie von 2015 bis 2019 als Vize-Aussenminister. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Mit Ihren Äusserungen machen Sie sich bei den Taliban nicht beliebt. Werden Sie überhaupt noch nach Afghanistan zurückkehren können?
Alle wollen wieder zurück, das ist klar. Aber nicht, solange die Taliban an der Macht sind. Sie sind eine Gruppe von Gangstern, die ein ganzes Land als Geisel genommen haben.

Früher oder später wird sich die Welt aber wohl mit den Taliban als neue Regierung abfinden müssen.
Ich glaube nicht, dass andere Länder eine Regierung akzeptieren werden, in der nur die Taliban das Sagen haben.

Wie könnte denn eine Regierung mit den Taliban in Ihren Augen aussehen?
Ich akzeptiere die Taliban, aber nur als politische Partei. Ich kann mir vorstellen, dass eine Regierung gebildet wird, in der mehrere Parteien vertreten sind – auch die Taliban, mit maximal 20 Prozent. Sie vertreten nicht die Mehrheit der Bevölkerung, bilden sich aber ein, dass mit ihrer Waffengewalt die Mehrheit hinter ihnen stehe.

Was muss passieren, dass die Taliban selber andere Parteien in der Regierung akzeptieren würden? Braucht es mehr internationalen Druck?
Das ist nur ein Teil. Die Taliban werden selber zur Einsicht kommen. Denn bisher konnten sie ihr Geld beschaffen, indem sie mit vorgehaltener Waffe internationale Projekte und Lehrer besteuerten. Jetzt müssen sie plötzlich selber regieren und liefern, was ihnen aber nicht gelingt. Die Banken sind kollabiert, auch das Gesundheits- und das Bildungswesen funktionieren nicht mehr. Sie können nicht mal mehr ihre eigenen Soldaten ernähren, geschweige denn bezahlen. Kommt dazu, dass sie im Norden und Westen über keine breite Basis verfügen.

Die Taliban behaupten von sich, dass sie weniger brutal seien als noch vor 20 Jahren. Stimmt das?
Sie spannen im Gegensatz zu früher heute viel mehr die Medien, so auch soziale Medien, ein und setzen sich positiv in Szene. Sie gehen aber immer noch äusserst brutal vor. In diesen Tagen wurden drei Frauenrechtlerinnen sowie ein junger Mann umgebracht, der nach seiner Flucht in den Iran wieder zurückgekehrt war.

Stehen Sie mit den Taliban in Kontakt?
Nicht mit offiziellen Vertretern, aber mit professionellen Kollegen aus Bereichen wie Bildung oder Gesundheit.

Stehen Sie mit Mitgliedern der abgesetzten Regierung in Kontakt?
Ja, ich unterhalte mich regelmässig mit dem Aussenminister, der in Europa ist, sowie mit dem Vize-Aussenminister, der nach Tadschikistan gereist ist.

Ist denn die vertriebene Regierung immer noch aktiv?
Absolut, wir unterhalten eine Exilregierung, deren Mitglieder in verschiedenen Ländern leben. Unser Regierungschef ist der bisherige Vize-Präsident Amrullah Saleh, der ebenfalls zurzeit in Tadschikistan ist. Es gibt virtuelle Kabinettssitzungen. Das Ziel ist, dass sich bald sieben, acht Minister persönlich zu einer echten Kabinettssitzung treffen.

Und Präsident Aschraf Ghani?
Er ist nicht mehr zu sehen, der Kontakt zu ihm ist abgebrochen.

Welches sind die Ziele dieser Exilregierung?
Wir koordinieren und bauen einen legitimen Widerstand auf, wir unterstützen und leisten humanitäre Hilfe. Und wir sagen der Welt, dass die Taliban eine bewaffnete Terrorgruppe sind, die das Land unrechtmässig eingenommen hat und dass nur eine pluralistische Regierung durch eine politische Lösung der Ausweg ist.

Wie sehen Sie Ihre Funktion?
Ich sehe mich als Nachfolger früherer Regierungen, die Afghanistan als eines der ersten Länder in die Uno geführt haben. Ich vertrete die Konventionen, die Afghanistan unterschrieben hat, so auch die Konvention für Frauenrechte und gegen Rassismus. Afghanistan war ein sehr modernes und gemässigtes Land. Man kann nicht im 21. Jahrhundert eine Idee implementieren, die aus dem 13. Jahrhundert stammt.

Auf Ihrem Pult liegt das Buch «Swiss Democracy». Was wollen Sie von der Schweiz lernen?
Um einen multiethnischen Staat zu führen, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder mit Gewalt, wie es die Taliban wollen, oder auf die Weise, wie es die Schweiz macht.

Was finden Sie an der Schweiz so gut?
Das Buch erklärt die vier Elemente, die die Schweiz so stark machen: Föderalismus, politische Proportionalität, Machtverteilung und das nicht auf Ethnien basierende System. Schon der afghanische Widerstandskämpfer und Nationalheld Achmad Schah Massoud verlangte kurz vor seiner Ermordung im September 2001 nach der Schweizer Verfassung. Eine Vertreterin der Stadt Genf brachte ihm eine Kopie persönlich nach Afghanistan.

Sie wollen Afghanistan nach dem Schweizer Modell aufbauen? Wie soll das gehen?
Jeder und jede von unserer Regierung bereitet im Ausland den Widerstand vor. Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, das Schweizer Modell zu studieren. Wir können nicht einfach gegen die Taliban kämpfen, sondern müssen den Afghanen eine bessere Lösung für die Zeit nach den Taliban präsentieren. Natürlich können wir die Schweizer Demokratie nicht einfach mit Copy-and-paste nach Afghanistan bringen, aber es könnte ein Fahrplan sein.

Was glauben Sie, wann wird Afghanistan eine Demokratie?
Wir bereiten unseren Widerstand in aller Ruhe vor. Widerstand geschieht nicht nur mit Waffen. Wichtiger ist es, Widerstand gegen die Ideologie der Taliban aufzubauen und zu leisten. Das geschieht nicht von heute auf morgen. Ich bin aber überzeugt, dass der aktuelle Zustand nur vorübergehend ist.

Was kann man von der Schweiz aus tun?
Zuallererst dürfen wir die Taliban nicht romantisieren. Sie sind eine Gruppe von Terroristen. Dies ist für die gesamte internationale Gemeinschaft wichtig. Zweitens braucht unsere Zivilgesellschaft Ihre moralische und materielle Unterstützung bei der Wiedererlangung unserer Rechte und Freiheiten und beim Aufbau eines besseren Afghanistan.

Was werden Sie machen, wenn Ihre Zeit als Botschafter in Genf in zwei Jahren offiziell abgelaufen ist? Zurückkehren können Sie vermutlich noch nicht.
Ich werde versuchen, der afghanischen Zivilgesellschaft und der Jugend von hier aus zu helfen. Vielleicht gehe ich auch zu Thinktanks oder an die Universität Freiburg, um noch mehr über das Schweizer Modell zu lernen.

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