«Auf dem Weg zum Flughafen wurden meine Kinder ohnmächtig»
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Shinwari (31) im August 2021:«Auf dem Weg zum Flughafen wurden meine Kinder ohnmächtig»

Seit acht Wochen herrscht in Afghanistan das Islamisten-Regime
«Es gibt keinen Unterschied zu den Taliban der 90er»

Sieben Wochen nach Abzug der US- und Nato-Streitkräfte fehlt noch immer jede Annäherung der neuen Machthaber an die internationale Gemeinschaft. Die Taliban zeigen zunehmend ihr wahres Gesicht.
Publiziert: 09.10.2021 um 16:36 Uhr
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Taliban-Kämpfer fahren schwer bewaffnet durch die Strassen von Kabul.
Foto: AFP
Myrte Müller

Es ist eine Jagd, die die Taliban seit Wochen in Afghanistan veranstalten. Männergruppen ziehen von Haus zu Haus, führen Razzien durch. In den Taschen haben sie Haftbefehle, mit denen sie «Verräter» suchen.

Abgesehen haben sie es auf ehemalige Mitarbeiter westlicher Streitkräfte, Journalisten, Aktivisten, Intellektuelle. Seit der Machtübernahme der Islamisten im Sommer droht ihnen die blutige Rache der Extremisten. Mittlerweile melden verschiedenste Quellen aus Afghanistan: Die Taliban haben sich seit ihrer Vertreibung durch die Nato nach 9/11 kein bisschen geändert.

Evakuierungen gehen im Geheimen weiter

Auch fast zwei Monate nach Abzug der Amerikaner und ihrer Nato-Verbündeten organisieren die USA Evakuierungen. Geheime Missionen bei Nacht und Nebel. Zehn Stunden Fahrt im Bus von Kabul in den Norden zum Flugplatz in Mazar-i-Sharif. Von dort starten Charter-Maschinen nach Katar. «Wir haben 800 Afghanen aus Mazar-i-Sharif herausgeschafft», jubelt die US-Journalistin in Pakistan, Kim Barker, auf Facebook. Einen Monat habe es gedauert, bis endlich die zwei Maschinen starten konnten.

Zurück bleiben Millionen. Sie stecken fest im Reich der Taliban, die zunehmend ihr altbekanntes Schreckensgesicht zeigen. Laut Amnesty International erschiessen die Taliban am 30. August 2021 in Daykundi elf ehemalige afghanische Sicherheitskräfte, nachdem die Männer sich ergeben hatten. Beim Massaker sterben auch zwei Zivilisten, darunter eine 17-Jährige.

Am 25. September 2021 hängen die Taliban im westafghanischen Herat einen Hingerichteten an einem Kran auf. Drei weitere Tote, angebliche Geiselnehmer, werden an anderen Stellen der Stadt zur Abschreckung öffentlich zur Schau gestellt. Um ihren Hals hängen Schilder mit Angabe ihrer Taten.

«Sie versuchen, das alles vor dem Westen zu verschleiern»

Der renommierte britisch-afghanische Journalist und Filmemacher Najibullah Quraishi sagt in einer Dokumentation für das US-Fernsehen: «Ich weiss nicht, warum die Taliban sich als gemässigt präsentiert hatten. Ich stelle das alles nicht fest. Zwischen den Taliban der 1990ern und denen von heute gibt es keinen Unterschied.»

Auch Quraishi berichtet von brutalsten Methoden, mit denen die Taliban ihre Version der Sharia durchsetzen: Auspeitschungen und abgetrennte Hände – all das hätten die Islamisten wieder eingeführt. «Sie versuchen einfach, das alles von den Medien und dem Westen zu verschleiern.»

UN-Generalsekretär warnt vor grosser Hungersnot

Zum Friedensabkommen, das die Taliban mit den USA in Doha unterzeichnet hatten, gehören auch die Bildung einer gemischten Regierung sowie die Einhaltung der Frauenrechte. Beides wird nicht respektiert. Das Kabinett besteht nur aus Taliban der alten Garde. Frauen dürfen nicht zur Arbeit, Millionen Mädchen nicht zur Schule.

Nicht nur der radikale Islamismus drangsaliert die afghanische Gesellschaft. Es ist auch dessen Unfähigkeit, zu regieren. Das Gesundheitssystem und die Energieversorgung drohen zu kollabieren, der Geldfluss stockt. Das Land, das seine Energie zu 78 Prozent aus den Nachbarländern bezieht, zahlt seit dem Machtwechsel keine einzige Rechnung mehr.

Nun plagt auch eine grosse Dürre die Region. Die Krise im Land dürfte dadurch nur noch verschlimmert werden. Bereits Mitte September warnte UN-Generalsekretär António Guterres vor einer Hungersnot. Allein 3,5 Millionen Afghanen seien im eigenen Land auf der Flucht.

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