Müde lächelnd sitzt Sultan Shinwari (31) im Garten der Asylunterkunft in Kirchlindach BE und schaut drei seiner vier Kinder beim Spielen zu: Sulaiman (9), Waijha (4) und Musa (3) vergnügen sich glücklich kreischend auf dem Kletterbaum. Schwester Alia (7) und Mutter Aisha (26) machen derweil Mittagsschlaf. Der afghanische Familienvater, der in Kabul für das Schweizer Kooperationsbüro der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) gearbeitet hat, meint zu Blick: «Wir sind unendlich dankbar dafür, dass wir hier sein dürfen.»
Doch die letzten Wochen haben dem jungen Mann stark zugesetzt. «Manchmal träume ich nachts immer noch von der Flucht. So etwas will ich nie mehr erleben», sagt er mit nachdenklichem Blick.
Plötzlich war alles anders
Das Drama nahm Mitte August seinen Lauf. Die Taliban rissen in Afghanistan plötzlich die Macht an sich – für alle völlig unerwartet, wie der studierte Finanzcontroller erzählt: «Wir sind zwar schon davon ausgegangen, dass sie vorrücken werden. Aber dass dies so schnell geht, hat niemand geahnt.»
Von einem Moment auf den anderen änderte sich alles. «Dank meinem Job hatte ich mir gerade den Traum von einem Mercedes erfüllt. Wir hatten wirklich ein gutes Leben in Kabul, aber unter dem Taliban-Regime waren wir nicht mehr sicher», so der 31-Jährige. «Uns Lokalangestellten wurde dann von der Schweiz angeboten, mit einem humanitären Visum einzureisen.»
Kinder fielen wegen Hitze in Ohnmacht
Doch die Ausreise war schwierig, fast unmöglich. «Tausende Menschen warteten dicht gedrängt am Flughafen», berichtet er und zeigt ein Foto auf seinem Handy. «Hier sieht man meinen Sohn Musa und meinen Bruder, der ihn gerade mit Wasser übergiesst, weil es so heiss war. Zwei meiner Kinder sind in der Hitze sogar ohnmächtig geworden.»
An mehreren Tagen in Folge sei die sechsköpfige Familie immer wieder zum Flughafen gereist, um dort auf den Flug in eine bessere Zukunft zu warten. «Es war so eng und es gab immer wieder ein grosses Gedränge. Ein Freund von mir hat sich dabei sogar zwei Rippen gebrochen», erzählt er von den dramatischen Zuständen. «Jeden Abend, als wir es wieder nicht geschafft haben und nach Hause zurückgekehrt sind, haben meine Eltern geweint. Sie hatten so grosse Angst um uns.»
Das ganze Leben in zwei Rucksäcke gepackt
Aufgeben kam für Sultan Shinwari aber nicht infrage: Von Tag zu Tag reduzierten er und seine Frau das Gepäck, das in der immensen Menschenmasse und mit vier kleinen Kindern bloss im Weg war. «Am 25. August haben wir es endlich geschafft. Ausser zwei Rucksäcken voller Kleidung mussten wir alles zurücklassen», berichtet der Afghane und wirkt traurig. «Aber wir sind froh, dass es geklappt hat. Es ist für uns die einzige Chance.»
Während alle seine Arbeitskollegen unterdessen bereits in die Schweiz eingereist waren, schafften Shinwaris die Flucht per Flugzeug via Usbekistan und Deutschland als Letzte. Einquartiert wurden sie zunächst im Bundesasylzentrum in Lyss BE, bis sie vor wenigen Tagen in die kantonale Unterkunft in Kirchlindach umgezogen sind.
Schweizer Essen schmeckt den Kindern (noch) nicht
«Es ist schon eine ziemliche Umstellung für uns. In Afghanistan hatten wir ein grosses Haus und hier teilen wir uns zu sechst ein einziges Zimmer», so der junge Vater, der darum auch schlecht schläft. «Immerhin können wir jetzt selber kochen. In Lyss gab es nur das Schweizer Essen, welches unsere Kinder nicht mochten.» Schmunzelnd ergänzt er: «Sie haben nur Joghurt gegessen.»
Jetzt wartet die Familie auf die Aufenthaltsbewilligung, lernt Deutsch und sucht eine Wohnung. Zudem wünscht sich Sultan Shinwari nichts sehnlicher, als bald wieder auf eigenen Beinen zu stehen: «Ich möchte wieder im Finanzbereich arbeiten und hoffe, dass ich schnell einen Job finde.»