BLICK: Herr Wessel, wie haben Sie vor fünf Jahren vom Tod Ihrer beiden Kolleginnen und Ihrer 16 Schüler erfahren?
Ulrich Wessel: Ich war mit anderen Schulleitern an einer Fortbildung, als ich um 11.45 Uhr per Whatsapp aufgefordert wurde, meine Schule anzurufen. Am Telefon wurde ich informiert, dass ein Flugzeug abgestürzt sei. Weil ich vor lauter Schreck unfähig dazu war, bat ich eine Sekretärin nach «Flugzeugabsturz» und «Germanwings» zu googeln. Sie las mir vor: «Flugzeug auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf abgestürzt.» Das konnte nur die Maschine mit unseren Schülern sein.
Wie haben Sie den Eltern die traurige Nachricht überbracht?
Bis ich zu ihnen in einen Klassenraum ging, hatten alle auf einen grossen Irrtum gehofft. Ich musste ihnen mitteilen, dass keines ihrer Kinder überlebt hatte. Das Entsetzen war unfassbar. Einige trauerten stumm oder weinten, andere schrien. Es ist fürchterlich, Eltern zu sagen, dass ihre Kinder nicht wiederkommen.
Was hat sich in den vergangenen fünf Jahren an Ihrem Gymnasium verändert?
Ich habe grossen Wert darauf gelegt, möglichst bald den Alltag zurückzuholen. Die Schüler sollten schon bald wieder Klassenfahrten, Karneval und Halloween durchführen. Sie können wieder lachen – aber nicht, weil wir etwas ausblenden wollen, sondern weil wir gelernt haben, mit der Tragödie umzugehen und sie anzunehmen.
Was hat sich bei Ihnen persönlich verändert?
Ich habe gelernt, viele Dinge, über die ich mich früher aufgeregt hatte, nicht mehr so wichtig zu nehmen und sie zu relativieren. Ich empfinde es als Gnade, selber von einer solchen Katastrophe verschont geblieben zu sein.
Wie präsent ist das Thema bei Ihnen heute noch?
Ich erinnere mich täglich daran. Wenn ich am Morgen an der Gedenktafel vorbeigehe, kommt mir die Katastrophe immer wieder hoch. Es gibt den bekannten Spruch «Zeit heilt alle Wunden». Ich glaube, wenn die Reihenfolge gestört ist und Kinder vor ihren Eltern gehen, stimmt dieser Spruch nicht.
Am 24. März um 10.41 Uhr zerschellte ein Airbus 320-211 der deutschen Billigairline Germanwings in den Bergen Südfrankreichs. Alle 150 Insassen starben. Das Flugzeug war von Barcelona (Spanien) nach Düsseldorf (D) unterwegs. An Bord befanden sich unter anderem zwei Lehrerinnen und 16 Schüler des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern am See (D). Die Zehntklässler waren auf dem Rückflug von einem Schüleraustausch in Llinars del Vallès.
Der französische Untersuchungsbericht kam zum Schluss, dass der deutsche Co-Pilot Andreas Lubitz (†27) an Depressionen litt und die Maschine bewusst zum Absturz gebracht hatte, um Suizid zu begehen. Er nutzte die WC-Pause des Piloten, der, als er den Sinkflug bemerkte, vergeblich gegen die von Lubitz verriegelte Cockpit-Türe hämmerte.
Günter Lubitz, der Vater des Co-Piloten, kritisiert den Bericht. Sein Sohn habe weder unter Depressionen gelitten noch die Maschine vorsätzlich abstürzen lassen. Gegenüber BLICK will sich Günter Lubitz nicht äussern, verweist aber auf die Homepage, die er für seinen Sohn eingerichtet hat und auf der er für die «Wahrheit» kämpft.
Noch immer läuft ein juristisches Nachspiel. 190 Hinterbliebene kämpfen in Deutschland gegen die Germanwings-Muttergesellschaft Lufthansa um höhere Schmerzensgeld-Zahlungen.
Am 24. März um 10.41 Uhr zerschellte ein Airbus 320-211 der deutschen Billigairline Germanwings in den Bergen Südfrankreichs. Alle 150 Insassen starben. Das Flugzeug war von Barcelona (Spanien) nach Düsseldorf (D) unterwegs. An Bord befanden sich unter anderem zwei Lehrerinnen und 16 Schüler des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern am See (D). Die Zehntklässler waren auf dem Rückflug von einem Schüleraustausch in Llinars del Vallès.
Der französische Untersuchungsbericht kam zum Schluss, dass der deutsche Co-Pilot Andreas Lubitz (†27) an Depressionen litt und die Maschine bewusst zum Absturz gebracht hatte, um Suizid zu begehen. Er nutzte die WC-Pause des Piloten, der, als er den Sinkflug bemerkte, vergeblich gegen die von Lubitz verriegelte Cockpit-Türe hämmerte.
Günter Lubitz, der Vater des Co-Piloten, kritisiert den Bericht. Sein Sohn habe weder unter Depressionen gelitten noch die Maschine vorsätzlich abstürzen lassen. Gegenüber BLICK will sich Günter Lubitz nicht äussern, verweist aber auf die Homepage, die er für seinen Sohn eingerichtet hat und auf der er für die «Wahrheit» kämpft.
Noch immer läuft ein juristisches Nachspiel. 190 Hinterbliebene kämpfen in Deutschland gegen die Germanwings-Muttergesellschaft Lufthansa um höhere Schmerzensgeld-Zahlungen.
Wie erinnern Sie an Ihrer Schule an das Drama?
Wir stehen an den Jahrestagen jeweils mit 1100 Schülern und 100 Lehrern zusammen, um der Opfer zu gedenken. Zudem haben wir drei Gedenkstätten eingerichtet. In der Eingangshalle hängen die Bilder der 18 Opfer und oben gibt es einen Raum, in dem von Mitschülern gestaltete Erinnerungen ausgestellt sind. Auf dem Schulhof haben wir um eine Tafel mit den Namen 18 Japanische Kirschbäume gepflanzt. Sie sind in der japanischen Mythologie Zeichen des wiederkehrenden Lebens.
Sie wurden von einer Sekunde auf die andere zum Krisenmanager. Sie mussten Eltern die traurige Nachricht überbringen und gleichzeitig den Schulbetrieb aufrechterhalten. Wie haben Sie das geschafft?
Man stellt in einem solchen Moment nicht die Frage nach der eigenen Befindlichkeit. Man sieht entsetzte Eltern vor sich und funktioniert einfach. In dieser Phase gab es bei mir keinen Platz für eigene Trauer.
Wann war Ihre Kraft am Ende?
Am Donnerstag, zwei Tage später, hatte ich um drei Uhr morgens die Zeitung mit der ganzseitigen Todesanzeige in der Hand, die ich aufgegeben hatte. Es war das erste Mal, wo ich richtig hemmungslos weinen musste. Diese 18 Namen zu lesen – und jeder Name stand für Hoffnung, für Freude, für Leben, das die jungen Menschen noch vor sich hatten – öffnete bei mir alle Schleusen.
Sie haben andere unterstützt. Wer hat Ihnen geholfen?
Meine beste Unterstützung war meine Frau. Ich habe sehr viele Angebote erhalten, aber einen Weg gefunden, es mit vielen Gesprächen ohne professionelle Hilfe zu schaffen.
Wie ist Ihr Kontakt zu den Hinterbliebenen heute?
Es gibt einmal im Monat einen Elternstammtisch, an dem meine Frau und ich manchmal auch teilnehmen. Zudem haben wir mehrere Geschwister von Verstorbenen an der Schule. Ich hätte nie gedacht, dass bis heute Kontakte zu so vielen Eltern bestehen blieben, die ich am Anfang ein kleines, bescheidenes Stück auf ihrem notgedrungen holprigen Weg begleiten durfte.
Was denken Sie über den Piloten Andreas Lubitz, der das Flugzeug in suizidaler Absicht zum Absturz gebracht hat?
Die Tatsache, dass es ein erweiterter Selbstmord war, hat der Tragödie eine zusätzliche Dimension gegeben. Viele Eltern bezeichnen den Piloten als Mörder, was er an diesem Tag auch war. An diesem Tag gab es einen Täter und 149 Opfer. Gleichzeitig war er aber auch Opfer seiner Krankheit. Seine Eltern haben nicht nur das Los, ihren Sohn verloren zu haben, sondern müssen auch damit leben, dass ihr Sohn 149 andere Menschen in den Tod mitgerissen hat.
Heute sind es seit dem Drama genau fünf Jahre her. Was haben Sie geplant?
Wir wollten draussen mit der ganzen Schule eine halbstündige Andacht veranstalten. Vergangenes Jahr legten alle Klassensprecher weisse Rosen nieder, dieses Jahr wollten wir viele Kerzen anzünden. Nun ist wegen der Corona-Krise alles abgesagt, auch die Gedenkfeiern in der Kirche. Aber ich weiss, dass einige Eltern zur Schule kommen werden.
Gibt es in der ganzen Tragödie etwas, was Ihnen Mut macht?
Das Leid hat die ganze Stadt zusammengeschweisst. Früher waren für mich Schlagzeilen wie «Eine ganze Stadt trauert» Blödsinn. Heute kann ich sie sehr gut verstehen. Haltern hat der Katastrophe ein Gesicht gegeben. Dennoch darf man nicht vergessen, dass 131 weitere Menschen unschuldig gestorben sind. Es geht mir vor allem um die Familien der Opfer. Die Schule und ich kommen erst viel später.
Mit einer Schweigeminute zur Absturzzeit um 10.41 Uhr ist am Dienstag in Haltern der Opfer der Flugzeugkatastrophe vor genau fünf Jahren in Südfrankreich gedacht worden. Gleichzeitig läuteten in der Stadt die Kirchenglocken.
Gedenkfeiern in Südfrankreich in der Nähe der Absturzstelle sowie in Haltern waren wegen der Coronakrise abgesagt worden. Trotz der Ausgangssperre in Frankreich sollte am Dienstag ein Kranz auf dem Friedhof der Gemeinde Le Vernet niedergelegt werden, die in der Nähe der Absturzstelle liegt. Dort gibt es ein Gemeinschaftsgrab, in dem die sterblichen Überreste bestattet wurden, die keinem der Opfer mehr zugeordnet werden konnten.
Vor der Gedenktafel am Joseph-König-Gymnasium in Haltern gedachten am Dienstagvormittag einige Menschen schweigend der Opfer. Der Ministerpräsident und das Schulministerium hatten Trauergestecke geschickt. Die Stadt Haltern hatte an einer Gedenkstätte auf einem Friedhof einen Trauerkranz aufstellen lassen.
Für den Abend war die Bevölkerung um 19 Uhr aufgerufen, eine Kerze als «Licht des Gedenkens» ins Fenster zu stellen. Damit sollte der Opfer gedacht und ein Zeichen der Verbundenheit mit den Hinterbliebenen gesetzt werden. Auch in den Fenstern der Schule sollten Kerzen entzündet werden. (SDA)
Mit einer Schweigeminute zur Absturzzeit um 10.41 Uhr ist am Dienstag in Haltern der Opfer der Flugzeugkatastrophe vor genau fünf Jahren in Südfrankreich gedacht worden. Gleichzeitig läuteten in der Stadt die Kirchenglocken.
Gedenkfeiern in Südfrankreich in der Nähe der Absturzstelle sowie in Haltern waren wegen der Coronakrise abgesagt worden. Trotz der Ausgangssperre in Frankreich sollte am Dienstag ein Kranz auf dem Friedhof der Gemeinde Le Vernet niedergelegt werden, die in der Nähe der Absturzstelle liegt. Dort gibt es ein Gemeinschaftsgrab, in dem die sterblichen Überreste bestattet wurden, die keinem der Opfer mehr zugeordnet werden konnten.
Vor der Gedenktafel am Joseph-König-Gymnasium in Haltern gedachten am Dienstagvormittag einige Menschen schweigend der Opfer. Der Ministerpräsident und das Schulministerium hatten Trauergestecke geschickt. Die Stadt Haltern hatte an einer Gedenkstätte auf einem Friedhof einen Trauerkranz aufstellen lassen.
Für den Abend war die Bevölkerung um 19 Uhr aufgerufen, eine Kerze als «Licht des Gedenkens» ins Fenster zu stellen. Damit sollte der Opfer gedacht und ein Zeichen der Verbundenheit mit den Hinterbliebenen gesetzt werden. Auch in den Fenstern der Schule sollten Kerzen entzündet werden. (SDA)