«Es muss ein entscheidendes Jahr sein», fasst der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) Anfang Woche seine Erwartungen an 2023 zusammen. Doch was wird das neue Jahr für die beiden Kriegsparteien bringen? Eine Übersicht.
Der aktuelle Stand
David gegen Goliath – das war die Vorstellung des Krieges in der Ukraine. Zumindest teilweise hat sich das bewahrheitet: Die «kleine» Ukraine zeigt sich standhaft gegenüber dem grossen Russland. Manche Experten sind sogar der Meinung, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld die klare Oberhand hat.
Stellvertretend für die Standhaftigkeit der Ukraine ist die Situation rund um die Stadt Bachmut – seit Wochen beissen sich russische Truppen die Zähne an der Frontlinie aus, die Ukrainer verteidigen diese erfolgreich.
Allerdings haben sich Putins Truppen eine perfide Taktik zu eigen gemacht und greifen gezielt ukrainische Energieinfrastruktur an – und bomben das Land somit in Kälte und Dunkelheit. Doch während die Ukraine vom Westen mit Waffen unterstützt wird, sinken Russlands Bestände stetig – ein weiterer Vorteil für die Ukrainer.
Die Kriegsziele der Ukraine
Für das angegriffene Land steht einiges auf dem Spiel. Kein Wunder, möchte Selenskis Regierung den Krieg schnellstmöglich beenden – mit einem Sieg über den Aggressor. Denn je länger der Krieg dauert, desto wahrscheinlicher werden ungünstige Szenarien wie eine Patt-Situation oder ein Teilsieg Russlands.
Die Ukraine fordert, dass Russland sich aus den besetzten ukrainischen Gebieten, einschliesslich der Krim, zurückzieht, für Kriegsschäden aufkommt und dass die russischen Kriegsverbrechen verfolgt werden. Aber wie will sie die Armee von Kremlchef Wladimir Putin (70) in die Knie zwingen?
Mit westlichen Waffen, wie die ukrainische Regierung immer wieder betont. «Wenn die internationale Gemeindeschaft ausreichend militärische Vorräte bereitstellt, gibt es allen Grund zur Annahme, dass die Ukraine die Aufgabe, Russland im neuen Jahr zu besiegen, beenden wird», so der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow (56).
Die Kriegsziele Russlands
Während die Ukraine den bewaffneten Konflikt möglichst schnell beenden will, pokert Putin auf das genaue Gegenteil: einen möglichst langen Krieg. So erhofft man sich im Kreml einerseits die Zermürbung der ukrainischen Streitkräfte und Moral, andererseits die Spaltung des Westens.
Der Kremlchef weiss: Je ferner ein ukrainischer Sieg scheint, desto schneller sinkt die westliche Unterstützung für das Land und desto stärker wird der Druck auf Kiew, mit dem Despoten zu verhandeln – ein äusserst günstiges Szenario für Russland, denn dort rechnet man mit ukrainischen Zugeständnissen.
Denn auch wenn die russische Regierung immer wieder seine Propaganda geändert hat: Am Ende geht es dem russischen Machthaber darum, die ukrainische Regierung zu stürzen, weite Teile des Landes zu erobern und die ukrainischen Streitkräfte aufzulösen. Zuletzt bestätigte das Aussenminister Sergei Lawrow (72) gegenüber der Nachrichtenagentur Tass.
Grossoffensive im Frühling
Die «NZZ» veröffentlichte an Heiligabend einen Bericht des deutschen Aussenministeriums, in dem zwei Szenarien für die Fortführung dieses Kriegs beschrieben werden. In ersterem wird sich Russland auf die Eroberung des Donbass konzentrieren, in zweiterem will man die ganze Ukraine einnehmen.
Beide haben gemeinsam, dass Russland eine erneute Grossoffensive starten wird, womöglich mit der Unterstützung von Belarus, wie das Institute for the Study of War (ISW) kürzlich berichtete. Der Zeitpunkt dieser Offensive ist noch nicht bekannt, Experten erwarten einen Angriff aber spätestens im Frühling.
Auch die Erfolgschancen sind ungewiss. Fest steht aber: «Für 2023 wird der Ausgang der russischen Frühjahrsoffensive der entscheidende Faktor sein. Putin hatte zugegeben, dass etwa 50’000 Mann der neu mobilisierten Truppen bereits an der Front seien; die anderen 250’000 der gerade Mobilisierten trainieren fürs nächste Jahr», analysiert Sicherheitsexperte Michael Clarke gegenüber der BBC.
Friedensverhandlungen
Während seines Besuches in den USA stellte Selenski einen Friedensplan in zehn Punkten vor. Doch aktuell sind Verhandlungen nicht realistisch. Militär-Experte Marcel Berni (34) analysierte im Gespräch mit Blick: «Ich sehe derzeit kein Potenzial für Waffenstillstands- oder sogar für Friedensverhandlungen.» Beide Seiten würden sich derzeit militärische Geländegewinne erhoffen, was den Krieg «noch nicht reif für Verhandlungen» mache.
«Worüber soll denn verhandelt werden? Über einen russischen Abzug aus der Ukraine? Oder über eine ukrainische Kapitulation?», fragt sich Berni. Beides sei zurzeit wegen der militärischen Kräftekonstellation und der Ansprüche der Kriegsparteien unrealistisch. Auch die russische Seite zeigt sich wenig begeistert von den Vorschlägen. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (54) und Aussenminister Lawrow betonten beide, dass die Voraussetzungen für einen solchen Plan nicht gegeben seien.
Ein Ende ist nicht in Sicht
Claudia Major, Sicherheitsexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sagte im Interview mit «Redaktionsnetzwerk Deutschland», dass es einen Zeitpunkt geben wird, an dem sich die beiden Seiten auf ein Einfrieren des Konflikts einigen werden. «Aber der politische Konflikt ist damit noch nicht gelöst. Es geht um die Frage der Zukunft der Ukraine, um die Zukunft Russlands, um Grenzen und um Kriegsreparationen, um die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen, um Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Der politische Konflikt wird daher mit jedem Tag grösser und schwieriger zu lösen.»
Auch der österreichische Aussenminister Alexander Schallenberg (53) rechnet nicht mit einem baldigen Kriegsende, wie er gegenüber «Puls24» erklärt. «Der Krieg wird uns leider noch lange in das Jahr 2023 hinein begleiten.»