Er hätte sogar Tickets gehabt. Und er befindet sich auch nicht wirklich im Fan-Ruhestand, wie schon berichtet wurde. Doch der Mann mit dem Schnauzer, der seit 50 Jahren von Rorschach bis Rio de Janeiro der Schweizer Nati den Marsch bläst, hat diesmal keine Lust. «Ich verzichte», sagt Sigi Michel, in Kicker-Kreisen besser bekannt als «Trompeten-Sigi».
Allein die Kosten für das WM-Reisli seien horrend, so der Ostschweizer. Dazu bedrückt ihn die weltweite Sicherheitslage: «Eigentlich passt mir die ganze Sache nicht.»
Kritik hält sich hartnäckig
Nächsten Monat ist Anpfiff in Katar – die Fussball-WM im Emirat beginnt. Anders als Fifa-Präsident Gianni Infantino, der seinen Wohnsitz dorthin verlegt hat, fremdeln hierzulande aber viele Fans mit dem Kick in der Wüste.
Die Kritik an der Gastgeber-Nation hält sich hartnäckig: Das Emirat am Golf ist ein Staat, in dem die Scharia gilt, Homosexualität unter Strafe steht und die Menschenrechtslage mehr als prekär ist. Auch die Arenen wurden von Arbeitsmigranten teils unter skandalösen Verhältnissen gebaut.
Drohen gar leere Ränge?
Zudem ist Katar ein Land ohne Fussballkultur, im Stadion droht der Stimmungsflop, und der für Milliarden Menschen wichtigste Sportanlass findet ausserhalb der Ferienzeit statt.
Kurzentschlossene, die zum Beispiel den Match der Nati gegen Serbien sehen wollen, fanden am Freitag auf der Onlineticketbörse der Fifa problemlos sechs Plätze der besten Kategorie nebeneinander. Ein Indiz, dass im Wüstenstaat leere Ränge drohen?
Normalerweise gibt die Zentrale des Weltfussballs am Zürichberg keine aktuellen Umsätze bekannt. Die letzte Wasserstandsmeldung datiert vom 16. August, als die letzte Verkaufsphase endete. Damals waren 2,45 Millionen Karten abgesetzt.
2,88 Millionen Tickets verkauft
Am Freitag aber lieferte die Fifa schliesslich: Für die Fussball-Weltmeisterschaft in Katar seien bereits 2,88 Millionen Tickets verkauft worden, so ein Sprecher des Weltverbandes gegenüber SonntagsBlick. Insgesamt seien 3,1 Millionen Tickets in den Verkauf gegangen.
Wäre es so, würden sich die Stadien der Wüsten-WM doch allmählich füllen. «Die letzte Verkaufsphase ist im Gange, wobei derzeit nur noch ein begrenztes Kontingent Tickets verfügbar ist», so der Fifa-Sprecher. «Für die Spiele der Schweizer Nationalmannschaft sind nur noch wenige Tickets erhältlich.»
SFV mit verhaltener Einschätzung
Damit ist aber nicht beantwortet, wie viele Fans aus der Schweiz nach Doha reisen werden. Der Weltverband teilt lediglich mit, man sei «erfreut über das Interesse der Fans aus der Schweiz».
Eine etwas andere Einschätzung kommt vom Schweizerischen Fussballverband (SFV): «Wir haben das Kontingent zu knapp 50 Prozent ausgeschöpft», so SFV-Sprecher Adrian Arnold am Mittwoch zu SonntagsBlick.
Für die Spiele gegen Serbien und Kamerun wurden laut SFV hierzulande je 1500 Tickets geordert. Der Match gegen Brasilien kommt auf 2500 verkaufte Tickets in der Schweiz. Zusammengerechnet wären das im Moment einige Tausend helvetische Schlachtenbummler.
Interesse sei diesmal kleiner
Im Vergleich zu früheren Weltmeisterschaften mit Schweizer Beteiligung sei das Interesse diesmal kleiner, so der SFV-Sprecher. Immerhin: Der SFV rechnet mit weiteren Schweizern, die in der Golfregion zu Hause sind, aber ihre Tickets nicht über das Schweizer Kontingent gebucht hätten.
Marcel Rohner wird sicher dort sein, schliesslich ist er offizieller Vertreter der Schweizer Fans. «Man sollte Katar nicht schlechter machen, als es ist», findet er. Sowieso gehe er wegen der Schweizer Nati ins Stadion, nicht wegen der Politik. Mit Fan-Repräsentanten aus aller Herren Länder besuchte Rohner kürzlich in Doha einen Workshop und weiss nun Bescheid über Sitten und Gebräuche im Emirat: Ein nackter Oberkörper geht demnach gar nicht. Küsse und Berührungen in der Öffentlichkeit sind den Gastgebern ein Gräuel. Und keinesfalls sollten sich Frauen dort ärmellos bewegen. Die Benimmetikette, so Rohner, werde bald auf der Verbandsseite publiziert.
Kompromiss beim Bier gefunden
Und da wäre noch die Sache mit dem Bier. Zusammen mit den Engländern versuchte Marcel Rohner den Kataris klarzumachen, dass der Gerstensaft nun mal zur Fussball-Kultur gehöre – eine der grössten Brauereien der Welt ist notabene Grosssponsor der Fifa.
Mittlerweile wurde ein allseits gesichtswahrender Kompromiss gefunden: Zwar gibt es in den Stadien nur alkoholfreies Bier, an manchen Ständen allerdings kann bis eine halbe Stunde vor Anpfiff und auch kurz danach alkoholhaltiges geordert werden. Beim Fanfest in Doha sitzt ebenfalls niemand gänzlich auf dem Trockenen. Nur: «Das Bier kostet dort zwischen 9.50 und 11 Franken, im Hotel 15 Franken», weiss Rohner.
Wie schwierig es bleibt, die WM an den Fan zu bringen, zeigt diese Anekdote: Die Katarer schenkten Rohner 50 Karten, die er in der Schweiz verteilen durfte. Flug und Hotel waren vom Emir bezahlt, dafür müssen die Eingeladenen am 20. November das Eröffnungsfest und -spiel der Gastgeber besuchen. Doch als Doha wissen wollte, wie gross die Schweizer Delegation denn nun sei, war Rohner etwas betreten: «Es wollen nur sieben Leute mit.»
Auch die Public-Viewing-Euphorie hält sich in Grenzen. In Bern zog sich der einzige potenzielle Veranstalter zurück, aus Basel liegt kein Gesuch vor. Zürich prüft noch und Winterthur ZH spricht mit einem Veranstalter. Ein generelles Verbot, wie es Paris oder Vevey VD beschlossen, wird es aber in den genannten Deutschschweizer Städten nicht geben.