Die Hälfte der Fussball-Euro ist vorbei und eines wird immer deutlicher: Wir erleben gerade das politischste Turnier der jüngeren Zeitgeschichte.
So mancher hat den Überblick über all die Aktionen und Debatten verloren. Erst verärgerten die Ukrainer die Russen mit einem Trikot, auf dem die ukrainischen Landesgrenzen mitsamt der von den Russen annektierten Halbinsel Krim prangten. Dann crashte beim Spiel Frankreich gegen Deutschland ein Klima-Aktivist mit einem Gleitschirm mitten ins Stadion. Die Spieler von Belgien, England und Schottland knieten auf dem Platz demonstrativ nieder, um gegen Rassismus zu demonstrieren – die Schiedsrichter taten es ihnen gleich.
Zu bunt für ungarischen Staatschef
Und schliesslich der Eklat um die Regenbogenfarben: Aus Protest gegen ein homophobes und transfeindliches Gesetz in Ungarn wollte München das Stadion in den Farben der LGBTQI+-Bewegung beleuchten. Der europäische Fussballverband Uefa verbot die Aktion zwar, dem ungarischen Staatschef Viktor Orban wurde es trotzdem zu bunt. Er sagte seinen geplanten Besuch des Spiels seiner Nationalelf in München (D) kurzfristig ab. Im Stadion lief der deutsche Captain Manuel Neuer daraufhin mit einer Regenbogen-Armbinde auf. Die ungarischen Fans johlten: «Deutschland, Deutschland, homosexuell!»
Keine Frage: Wo Nationen gegeneinander antreten, ist Politik nie weit. Wenn beim Gruppenspiel Türkei gegen Wales in Baku der Uefa-Präsident Aleksander Ceferin auf der Ehrentribüne zwischen Aserbaidschans Machthaber Ilham Aliyev und dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan sitzt und Letzterer just am Vortag die Stadt Schuscha besuchte, die im Krieg um Bergkarabach kürzlich von Aserbaidschan zurückerobert wurde, dann geht es um mehr als um das Resultat auf dem Platz.
Wie politisch kann Sport sein?
Kommt hinzu: Wir leben in einer politisch fiebrigen Zeit. Im Sport spiegeln sich die Debatten und Entwicklungen, die Europa und die Welt erfasst haben.
Und doch gehen die Ereignisse an der Euro 2021 darüber hinaus. «In dieser Heftigkeit hatten wir das noch nie», sagt Jürgen Mittag, Professor für Sport und Politik an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er ist überzeugt: «Das Verhältnis von Sport und Politik wird gerade neu ausgehandelt.»
Bisher haben sich die mächtigen Verbände wie die Uefa vehement dagegen gewehrt, zivilgesellschaftlichen Anliegen Raum zu lassen. Politische Botschaften während eines Wettkampfs waren verboten. «Die Sportverbände realisieren jetzt, dass diese strikte Haltung nicht mehr tragfähig ist», sagt Mittag. Sie seien daran, sich neu zu orientieren. Die Uefa versuche, Proteste zu kanalisieren, in dem sie sie in geordnetem Masse erlaube.
Noch vor zwei Jahren undenkbar
Tatsächlich lässt es der Verband bei der laufenden EM zu, dass ganze Mannschaften und selbst Schiedsrichter auf dem Platz hinknien, um sich mit der antirassistischen «Black Lives Matter»-Bewegung zu solidarisieren. Mittag: «So etwas wäre noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen.»
Gemäss den Richtlinien der Uefa wäre der Kniefall eigentlich auch heute noch verboten. Dort steht geschrieben: Botschaften «politischen, ideologischen oder religiösen Inhalts», die «durch Geste, Bild, Wort oder andere Mittel» geäussert werden, sind untersagt.
Schweizer Nati 1995
Das Verbot wurde erlassen, nachdem die Schweizer Nati 1995 während der Hymne ein Transparent mit der Aufschrift «Stop it Chirac» entrollte. Die Mannschaft um Alain Sutter wollte damit gegen Atombombentests des damaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac in der Südsee demonstrieren. Die Botschaft ging um die Welt.
Indem die Uefa nun den Kniefall oder die LGBTQI+-Binde duldet, weicht der Verband seine eigenen Vorschriften auf. Zu stark scheint der Druck, gesellschaftspolitische Anliegen nicht einfach zu ignorieren.
Emanzipation der Spieler
Neu ist dabei auch, dass dieser Druck zunehmend von den Spielern selbst kommt. Jürgen Mittag von der Sporthochschule Köln sagt: «Die Spieler emanzipieren sich. Sie werden mündiger.» Das führe dazu, dass sie teils bewusst Grenzen überschreiten, die ihnen von den Verbänden auferlegt worden sind.
Doch wie politisch darf der Sport sein? Der Grat ist schmal. «Lässt die Uefa zu viel zu, wird der Sport von der Politik überlagert. Oder es werden gar Konflikte angeheizt», mahnt Mittag.
Die Fussballverbände stecken im Dilemma. Einerseits fährt die Uefa Kampagnen gegen Rassismus und Diskriminierung, andererseits verbietet sie, dass die Münchner Allianz Arena in den LGBTQI+-Farben erstrahlt. «Die Regenbogen-Heuchelei», titelte die deutsche «Bild»-Zeitung.
Wie zerrissen die Uefa ist, zeigte sich nach dem Beleuchtungsverbot noch deutlicher. Kaum hatten sich Konzerne und Politiker mit der LGBTQI+-Bewegung solidarisiert und ihre Profilbilder in den sozialen Medien in Regenbogenfarben gehüllt, zog die Uefa mit. Sie färbte ihr Logo ein und schrieb dazu: «Für die Uefa ist der Regenbogen kein politisches Symbol.» So weit, so paradox.
«Lebenslüge»
Christian Koller, Sporthistoriker und Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs, findet die Haltung des Verbands inkonsequent. «Sport und Politik waren stets miteinander verbunden», sagt er. «Je wichtiger der Sport in der Gesellschaft wurde und je mehr öffentliche Beachtung er fand, desto enger wurde der Zusammenhang mit der Politik.»
Der Fussball als populärste Disziplin sei davon besonders betroffen. Die Doktrin der Verbände, ja keine Politik zuzulassen, sei eine «Lebenslüge», die so alt sei wie der moderne Sport selbst.
Demonstrative Politiklosigkeit
Koller findet die demonstrative Politiklosigkeit der Verbände problematisch. Vor allem, wenn Turniere in Ländern mit undemokratischen Verhältnissen stattfinden.
Das ist bereits im nächsten Jahr der Fall, wenn die Fussball-Weltmeisterschaft in Katar stattfindet. Spätestens dann dürfte auch die Debatte um den Regenbogen wieder aufkochen. Im streng islamisch geprägten Land ist Homosexualität verboten.