Als der Ständerat über die Abschaffung des Eigenmietwerts debattierte, ging es vielen Rednern um nichts Geringeres als Gerechtigkeit.
«Der Eigenmietwert mag als ungerecht erscheinen, er schafft aber Gerechtigkeit», sagte Paul Rechsteiner (69, SP). Der vehemente Gegner der Abschaffung wies darauf hin, dass die Preise für Wohneigentum seit zwanzig Jahren stark gestiegen sind: «Die Eigentümer haben von diesen starken Wertsteigerungen profitiert, davon können alle anderen nur träumen.» Der Eigenmietwert schaffe einen Ausgleich zwischen Eigentümern und Mietern – also mehr Gerechtigkeit.
Brigitte Häberli (63, Mitte), treibende Kraft hinter der Vorlage, sieht es komplett anders. Die Vizepräsidentin des Hauseigentümerverbandes fand im Rat eine Mehrheit. Gegenüber SRF verteidigte sie die Abschaffung so: «Es gibt sicher Hausbesitzer, die bessergestellt sind. Aber die grosse Mehrheit – wir vertreten in unserem Verband 340 000 Hauseigentümer und Besitzer von Eigentumswohnungen – hat ein durchschnittliches Einkommen.» Diese Menschen entlaste man nun: «Sie haben gespart und ihr Eigentum mit harter Arbeit erreicht.»
Harte Arbeit oder Glück?
Wer hart arbeitet, kann sich ein Haus leisten und hat die entsprechenden Vorteile deshalb verdient – ein starkes Narrativ, gegen das kaum anzukommen ist. Bloss: Stimmt das heute noch? Sind es wirklich die Fleissigsten und Sparsamsten, die sich auch 2021 ein Eigenheim leisten können?
Abschliessend beantworten kann diese Frage niemand. Offizielle Statistiken darüber, woher das Geld für die eigenen vier Wände kommt, gibt es nicht. Der Bund hat lediglich Zahlen über die Vorsorgevorbezüge zwecks Wohneigentumsförderung. Und die zeigen: Das Volumen der Pensionskassenvorbezüge (zweite Säule) ist in den vergangenen Jahren stabil geblieben. Auch die Vorsorgekonten der dritten Säule werden kaum häufiger angetastet, um ein Haus zu kaufen.
Von Schenkungen und Erbvorzügen wird immer mehr profitiert
Stattdessen profitieren Hauskäuferinnen und -käufer immer öfter von Schenkungen oder Erbvorbezügen. Das zeigen Gespräche von SonntagsBlick mit Schweizer Banken. Ein Sprecher von Raiffeisen sagt: «Im Zuge der ansteigenden Immobilienpreise bei gleich bleibenden Tragbarkeitshürden steigen auch die Eigenkapitalanforderungen für die Eigenheimfinanzierung. In diesem Zusammenhang sind Erbvorbezüge oder Schenkungen oftmals ein Mittel, um die Eigenkapitalanforderungen zu erfüllen.»
Deutlicher wird die Zürcher Kantonalbank (ZKB): «Wir beobachten, dass vor allem bei jüngeren Eigenheimkäufern Eigenmittelanteile aus Schenkungen oder Erbvorbezügen heute durchaus üblich sind.»
«Heute braucht es deutlich mehr Geld»
Für Claudio Saputelli (52), Immobilienexperte der UBS, sind die bezahlten Wohneigentumspreise gar nicht anders erklärbar: «Wer ein Haus oder eine Wohnung kaufen will, muss heute deutlich mehr Geld auf den Tisch legen als noch vor ein paar Jahren. Die mehrheitlich jungen Menschen, die ein Eigenheim kaufen wollen, haben aber nicht plötzlich mehr Geld auf der Seite als früher.»
Für den UBS-Mann liegt deshalb auf der Hand, dass das zusätzliche Kapital vermehrt aus Schenkungen stammen muss. Saputelli: «Ohne die Unterstützung durch die Eltern oder ein anderes Familienmitglied könnten sich viele kein Eigenheim leisten, erst recht nicht in den Zentren.»
Interessant auch die Feststellung einer Sprecherin der Credit Suisse: «Bei Pensionierungsplanungen von Eltern beobachten wir, dass Beträge bewusst zur Seite gelegt werden, um Kinder beim allfälligen späteren Immobilienkauf zu unterstützen.»
Schenkungen nehmen zu
Wie viele Eigenheimkäufer genau von familiärer Unterstützung profitieren, wissen die Banken nicht. Auch zur Höhe der Schenkungen führen sie keine Statistiken. Ein starkes Indiz dafür, dass die Beobachtungen der Kreditinstitute stimmen, liefert jedoch der Kanton Bern. In einer Auswertung für SonntagsBlick hat die Steuerverwaltung des zweitgrössten Kantons festgestellt, dass sich Anzahl und Volumen der Schenkungen zwischen 2015 und 2019 um rund zehn Prozent erhöht haben. Die Bevölkerungszahl indes nahm im gleichen Zeitraum nur um 2,5 Prozent zu.
Marius Brülhart (54), Wirtschaftsprofessor an der Universität Lausanne, forscht seit Jahren zur Wohlstandsverteilung in der Schweiz. Die neuen Daten aus Bern haben ihn überrascht: «Die Zahl der erhaltenen Schenkungen übersteigt seit 2016 die Zahl der erhaltenen Erbschaften. Das war vorher jeweils umgekehrt.»
«Schenkungen gewinnen an Gewicht»
Der Gesamtwert der steuerlich ausgewiesenen Schenkungen liege zwar weiterhin unter jenem der Erbschaften, aber die Differenz werde stetig kleiner. Brülhart: «Schenkungen gewinnen sowohl im absoluten Umfang wie auch im Verhältnis zu Erbschaften an Gewicht.»
Wofür die Schenkungen verwendet werden, weiss der Kanton Bern zwar nicht. Der Schluss liegt aber nahe, dass die Eigenheimfinanzierung Haupttreiber dieser Veränderung ist.
An dieser Entwicklung ist nichts auszusetzen. Es ist absolut nachvollziehbar, dass Eltern ihren Kindern helfen, den Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Von einer Ungerechtigkeit kann deswegen nicht die Rede sein.
Fakt ist aber, dass der Hauskauf immer seltener «mit harter Arbeit» und aus eigener Kraft erreicht wird. Das Portemonnaie von Mami und Papi ist oft mindestens so wichtig.