Auf einen Blick
- Schwerhörigkeit verursacht hohe Kosten und beeinträchtigt die Lebensqualität vieler Menschen
- Hörgeräte würden Abhilfe schaffen, sind aber für viele zu teuer
- 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz sind von Schwerhörigkeit betroffen
Das hörte sich nicht mehr gut an. «Ich stellte fest, dass ich immer häufiger nachfragen musste, was jemand gesagt hatte», erzählt Léa Duquesne (75). «Das wurde mit der Zeit immer anstrengender. Ich begann mich zurückzuziehen, nicht mehr ins Kino, Konzert oder Theater zu gehen.»
Ein Hörtest zeigt: Duquesne leidet an einem Hörverlust von 20 Prozent. Eine starke Beeinträchtigung – doch zu wenig, um von der AHV finanzielle Unterstützung für den Kauf von Hörgeräten zu bekommen. Diese Schwelle liegt bei 35 Prozent. «Ich verstehe nicht, warum ich noch 15 Prozent schlechter hören muss, um einen Zustupf zu bekommen.»
Ein Zustupf wäre durchaus willkommen gewesen. «Das sind die teuersten Schmuckstücke, die ich mir je geleistet habe – und man sieht sie nicht einmal», sagt die Rentnerin aus Bassersdorf ZH und tippt auf die Hörgeräte in ihren Ohren. Es ist zwar nicht der Rolls-Royce der Hörverstärker, aber doch die Mittelklasse. Rund 6000 Franken hat die Rückkehr in die Welt des Gutverstehens und der vollen Teilnahme am Sozialleben gekostet.
Eine folgenschwere Reform
Einfachere Hörgeräte gibt es ab rund 3000 Franken pro Paar. Solche mit mehr Leistung und Bedienkomfort können einiges mehr kosten – bis zu 9000 Franken. Von Schwerhörigkeit sind rund 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz betroffen.
Die ehemalige Lehrerin Duquesne kann es sich leisten, die Hörgeräte aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Viele andere können das nicht – mit erheblichen finanziellen Folgen für die Gesellschaft.
Das Problem: Die Schwellen bei der Finanzierung von Hörhilfen durch AHV und IV, die Hörhilfen für Menschen im Erwerbsleben bezahlt, wurden erst 2011 eingeführt. Vorher war die Hürde für die finanzielle Unterstützung weniger hoch.
Diese Änderung hatte dramatische Folgen, wie eine Studie von Pro Audito Schweiz zeigt, die Blick exklusiv vorliegt. Seit der Reform ist die Bezugsquote von Hörgeräten in der Schweiz deutlich gesunken. «Man muss noch schlechter hören, um eine finanzielle Beteiligung zu bekommen», sagt Heike Zimmermann (53), Co-Geschäftsführerin von Pro Audito Schweiz. Deshalb würden viele Menschen auf Hörgeräte – und damit auf gesunde Lebensjahre – verzichten. «Auch aus Scham, weil sie nicht zu Bittstellern bei den Behörden werden wollen», weiss Zimmermann.
«Mit der Reform haben AHV und IV seither rund eine Milliarde Franken eingespart – viel mehr als ursprünglich geplant», kritisiert Zimmermann. «Es wurde allerdings am falschen Ort gespart, mit enormen Folgekosten für uns alle.» Zudem sanken die Preise für Hörgeräte nicht, was die Reform ebenfalls zum Ziel hatte.
Milliardenschwere Folgekosten
Hörverlust kann zu Vereinsamung oder zu Depression führen oder altersbedingte Demenz beschleunigen – denn Hören ist zentral für die geistige Fitness. Folgeerkrankungen, die auch von den Krankenkassen – und damit den Prämienzahlern – bezahlt werden.
Schlecht zu hören, verursacht gesamtgesellschaftliche Kosten von 7 Milliarden Franken pro Jahr, wie ein Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) aus dem Jahr 2022 schätzt. Nur Rückenbeschwerden sind noch teurer. Zum Vergleich: Die Folgekosten durch die Suchtkrankheiten Rauchen (3,9 Milliarden) und Alkohol (2,8 Milliarden) sind deutlich tiefer.
Die hohen Kosten haben die Politik hellhörig gemacht: Der Urner FDP-Ständerat und Gesundheitspolitiker Josef Dittli (67) trägt seit über zehn Jahren selber Hörgeräte. Er weiss also, dass nicht erst mit dem Alter das Gehör nachlassen kann. Produktivitätsverluste wegen der eingeschränkten Leistungsfähigkeit betroffener Arbeitnehmer tragen ihren Teil zu den milliardenschweren gesellschaftlichen Kosten der Schwerhörigkeit bei.
Bundesrat hat kein Gehör
In einer Interpellation wollte Dittli vom Bundesrat wissen, was er gegen die steigenden Kosten durch Hörverlust zu tun gedenke. Mit seinen Sorgen fand der Urner wenig Gehör beim Bundesrat, der in seiner Antwort vor allem Aufklärung und Sensibilisierung als Lösungsweg skizziert. Zusätzliche Mittel, um die finanzielle Hemmschwelle zu senken, gibt es keine. «Mit dieser Antwort bin ich nicht zufrieden», sagt Dittli. «Der Bundesrat anerkennt zwar das Problem, aber wenn es um konkrete Massnahmen geht, macht er nichts.» Dittli warnt: «Es droht für besonders Betroffene ein sozialer Missstand, die Leute drohen zu vereinsamen.»
Dabei liesse sich mit wenig Geld viel erreichen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat berechnet, dass für jeden Dollar, der für den Kampf gegen Schwerhörigkeit eingesetzt wird, 16 Dollar Rendite in Form höherer Lebensqualität und Produktivität sowie tieferer Krankheitskosten zurückkommen.
Eine Investition, die sich für Léa Duquesne gelohnt hat. Kurz nach dem Kauf der Hörgeräte war sie wieder einmal an einem Jazzkonzert. «Das war fantastisch, ich hatte das Gefühl, ich sitze inmitten der Musik. Da habe ich realisiert, wie viel ich nicht mehr wahrgenommen habe.» Abschliessend meint sie: «Von so einem Hörerlebnis sollten wieder viel mehr Menschen profitieren können.»
Da sollte auch der Bundesrat mal genauer hinhören.