Wir hören immer schlechter. Laut Schätzungen der WHO wird Schwerhörigkeit bis ins Jahr 2030 zu den sieben häufigsten Einschränkungen der Lebensqualität gehören. Auch in der Schweiz leiden viele Menschen unter eingeschränktem Hörvermögen. Gemäss Daten von Pro Audito, der schweizerischen Anlaufstelle für Menschen mit Schwerhörigkeit, sind gut 1,3 Millionen Menschen davon betroffen – fast 15 Prozent der Bevölkerung.
Patrick Dörig (39), Oberarzt an der HNO-Klinik des Universitätsspitals Basel, sagt: «Bei Schwerhörigkeit im Alter handelt es sich typischerweise um einen schleichenden Prozess.» Entsprechend sei den Betroffenen oft über Jahre nicht bewusst, dass ihre Hörfähigkeit stetig abnehme. Und bis eine Hörminderung behandelt werde – zum Beispiel mit einem Hörgerät –, verstreichen laut dem Experten häufig mehrere Jahre.
Es droht sozialer Rückzug, Depression oder gar Demenz
«Betroffene arrangieren sich oft unbewusst mit der Situation», sagt Dörig. Im Austausch mit anderen würden sie vermehrt auf die Lippenbewegungen ihrer Gesprächspartner achten. Zudem müssten sie sich mehr konzentrieren, um Gesprächen folgen zu können. In einer geräuschvollen Umgebung – zum Beispiel einem Restaurant – sei das Sprachverstehen besonders schwierig. «Deshalb lässt sich bei Betroffenen oft ein sozialer Rückzug beobachten.» Das könne einen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben und ein Faktor für eine Depression sein.
Aus jüngeren wissenschaftlichen Arbeiten sei zudem bekannt, dass Schwerhörigkeit ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung einer Demenz sei, sagt Dörig. «Ob eine Schwerhörigkeit direkt zu einer Demenz führt, ist allerdings nicht belegt. Wir gehen aber davon aus, dass gutes Hörvermögen und damit guter auditiver Input für die geistige Fitness von Bedeutung ist.»
Hörgeräte besser frühzeitig ins Auge fassen
Aus diesen Gründen sei es wichtig, eine Schwerhörigkeit früh zu erkennen und sich früh für ein Hörgerät zu entscheiden, sagt der Experte – auch wenn die Hemmschwelle dazu für viele Betroffene hoch sei. Dörig beobachtet zudem, dass Hörgeräte noch immer stigmatisierend seien. Jemand, der sich mit 50 oder 60 ein Hörgerät anschaffe, habe oft die Befürchtung, bereits als alt und hilfsbedürftig eingestuft zu werden. Dabei zeige sich im klinischen Alltag immer wieder: «Wer ein Hörgerät trägt, hätte sich im Nachhinein oft gewünscht, sich schon viel früher dafür entschieden zu haben.» Das verbesserte Hörvermögen wiege in vielen Fällen mehr als die befürchtete Stigmatisierung.
Den organischen Hörverlust könne ein Hörgerät zwar nicht wieder wettmachen. «Aber es kann das Hören und das Sprachverstehen deutlich verbessern», sagt Dörig. Er betont zudem, wie wichtig es ist, sich für die Angewöhnung eines Hörgerätes genügend Zeit zu nehmen. «Die vorangehende Hörfähigkeit haben Betroffene über mehrere Jahre hinweg verloren.»
Lippen lesen hilft ebenfalls
Das Gehirn brauche entsprechend ebenfalls Zeit, sich an das wieder verbesserte Hörerlebnis zu gewöhnen. «Das kann herausfordernd sein und braucht Geduld», sagt Dörig. «Nach rund drei Monaten sollte das Hörgerät richtig eingestellt und unser Gehirn entsprechend umgewöhnt sein.»
Zwar gebe es bei Schwerhörigkeit im Alter bislang keine medikamentösen Alternativen zu einem Hörgerät, sagt Dörig. «Wer aber trainiert, die Lippen seiner Gesprächspartner zu lesen, kann daraus zusätzlichen Nutzen ziehen.» Pro Audito biete dazu eigens Materialien und Online-Kurse an.