Sozialreform der Bürgerlichen
Tausende Rentner verlieren Ergänzungsleistungen

Per 1. Januar 2024 wurde vielen Pensionierten die staatliche Unterstützung gekürzt. Mitte-Rechts verspricht ihnen nun mehr Geld – um die 13. AHV-Rente zu verhindern.
Publiziert: 28.01.2024 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 28.01.2024 um 11:27 Uhr
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Kampf um die 13. AHV-Rente: Diese Woche machten die Bürgerlichen ihren ersten Schachzug im Abstimmungskampf.
Foto: Getty Images
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Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

So etwas kommt in der Schweiz nicht alle Tage vor: Bürgerliche laden zu einer Medienkonferenz in Bern, bei der sie den Ausbau des Sozialstaats in Aussicht stellen.

«Es gibt Handlungsbedarf bei den tiefen Renten», betonte GLP-Nationalrätin Melanie Mettler (46, BE) bei diesem Anlass. Mit einer von ihr eingereichten Motion versprach sie, das Parlament werde die AHV-Renten für bedürftige Rentnerinnen und Rentner erhöhen – im doppelten Umfang dessen, was bei Annahme der Initiative zur 13. AHV-Rente vorgesehen ist.

Flankiert wurde Mettler bei ihrem Auftritt diese Woche von Mitte-Ständerätin Brigitte Häberli-Koller (65, TG), FDP-Nationalrat Olivier Feller (49, VD) und SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi (45, ZG). Gemeinsam wollen sie die Gewerkschafts-Initiative verhindern, die gemäss SRG-Umfrage auf eine Zustimmung von 61 Prozent kommt.

Mutiges Nein-Komitee

Der Zeitpunkt für diesen Auftritt ist gewagt. Just in diesen Tagen zeigen sich die Auswirkungen einer Sozialreform, welche die Bürgerlichen 2019 beschlossen haben: Per 1. Januar 2024 wurden Zehntausenden Rentnerinnen und Rentnern die Ergänzungsleistungen (EL) gekürzt. Mehrere Tausend Einkommensschwache verloren diese staatliche Unterstützung sogar komplett.

EL werden an Personen mit einer AHV- oder IV-Rente ausgerichtet, wenn ihr Einkommen nicht reicht, um die minimalen Lebenskosten zu decken. 2022 waren 16,4 Prozent aller Rentnerinnen und Rentner dazu berechtigt.

Offizielle Angaben über die schweizweiten Folgen der Reform liegen noch nicht vor. Auf Anfrage von SonntagsBlick legten aber mehrere Kantone ihre provisorischen Daten offen.

Im Kanton Bern wurden wegen der Reform 18'500 Dossiers neu beurteilt. Bei rund 2500 gab es keine Änderung, bei 4000 resultierte ein höherer Anspruch. 11'000 EL-Bezügern wurde die Unterstützung gekürzt – und rund 1000 Bernerinnen und Berner haben seit dem Jahreswechsel überhaupt keinen Anspruch mehr auf Ergänzungsleistungen.

In anderen Kantonen sieht es ähnlich aus: Im Aargau erhalten ab 2024 «rund 700 Personen» keine Ergänzungsleistungen mehr, auch in den Kantonen Freiburg (405 Personen), Wallis (301) und Basel-Stadt (253) entfallen viele Ansprüche komplett.

Rentner besonders stark betroffen

Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) erwartet aufgrund von Hochrechnungen, dass schweizweit rund 8000 EL-Berechtigte ihren Anspruch auf Ergänzungsleistungen verlieren, zwei Drittel davon sind Pensionierte. Skos-Geschäftsführer Markus Kaufmann: «Zudem dürfte rund ein Drittel der Rentnerinnen und Rentner, die EL beziehen, seit diesem Monat weniger Geld erhalten.» Landesweit erhielten schätzungsweise rund 70'000 Personen seit dem Jahreswechsel weniger EL.

Das Ausmass der Kürzungen für die einzelnen EL-Bezüger ist sehr unterschiedlich. Bei manchen geht es um ein paar Franken, teilweise fallen aber 200 bis 300 Franken pro Monat weg.

Ein wichtiger Grund für die EL-Kürzungen und -Streichungen ist laut Kaufmann der Umstand, dass bei der Berechnung des Leistungsanspruchs neu das Einkommen des Ehepartners stärker berücksichtigt wird – ebenso wie das eigene Vermögen. Manche der Betroffenen, die nun keine EL mehr erhalten, dürften deshalb in einigen Monaten wieder einen Anspruch auf EL geltend machen, sobald sie ihr Erspartes aufgebraucht haben und damit unter die Vermögensschwelle von 100'000 Franken fallen.

Mit Häberli-Koller (Mitte), Feller (FDP) und Aeschi (SVP) haben drei von vier Mitgliedern des Nein-Komitees, die diese Woche gegen die 13. AHV-Rente ins Feld zogen, die EL-Reform unterstützt. GLP-Frau Mettler war damals noch nicht im Parlament.

Bürgerliche sehen keinen Sozialabbau

Wie verträgt sich dieses Votum für Sozialabbau mit dem Versprechen, in Zukunft – höchstwahrscheinlich nach der AHV-Abstimmung – eine gezielte Unterstützung für finanzschwache Rentnerinnen und Rentner einzuführen? Auf Anfrage weisen die Verantwortlichen den Vorwurf entschieden zurück, Sozialabbau zu betreiben. «Die erwähnte EL-Reform bezweckte den Erhalt des Leistungsniveaus und die stärkere Verwendung der Eigenmittel», teilt Aeschi im Namen des Nein-Komitees mit. Ergänzungsleistungen sollten gemäss Verfassungsauftrag gezielt jenen zugutekommen, die ohne diese Unterstützung ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können.

«Die Bürgerlichen haben das Wohl des gesamten Volkes im Blick», betont Aeschi. Deshalb wehre man sich gegen die Gewerkschafts-Initiative, die durch höhere Abgaben und Steuern vor allem dem Mittelstand und tieferen Einkommensgruppen schade.

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Eine offizielle Definition für das Wort Sozialabbau gibt es nicht. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hält jedoch auf seiner Website fest, dass die EL-Reform für die öffentliche Hand Einsparungen von 401 Millionen Franken bedeute – Gelder, die bisher einkommensschwachen Rentnerinnen und Rentnern zugutekamen.

Skos-Geschäftsführer Kaufmann stellt fest: «In den letzten Jahren hat die Politik auf nationaler und kantonaler Ebene die Hürden für EL- und Sozialhilfebezug in vielen Bereichen erhöht.» Viele Menschen schämten sich deshalb, diese Hilfen zu beanspruchen. «Ich erhoffe mir, dass bei Politikerinnen und Politikern ein Umdenken stattfindet und die Unterstützung für Armutsbetroffene mit EL und Sozialhilfe wieder zu einem breit abgestützten Pfeiler der sozialen Sicherheit in unserem Land wird.»

Immerhin: Die Skos erwartet nicht, dass durch die EL-Reform die Zahl der Sozialhilfebezüger stark zunehmen wird. Der Grund: Das Vermögen vieler Rentnerinnen und Rentner, deren Einkommen nun nicht mehr zum Leben reicht, ist noch zu gross, um Sozialhilfe beziehen zu dürfen.
Doch das ist keine wirklich gute Nachricht. Kaufmann: «Von Gesetzes wegen sollte es überhaupt nicht vorkommen, dass über 65-Jährige in die Sozialhilfe abrutschen.» Aufgrund der EL-Reform werde es nun aber «deutlich mehr Leute» geben, die knapp über der Sozialhilfegrenze leben müssen.

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