«Der Workload ist derselbe»
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RAV zu Arbeitslosenquote:«Der Workload ist derselbe»

RAV sind leer wie seit 20 Jahren nicht mehr
«1,5 Angestellte reichen für alle Arbeitslosen im Kanton»

Der Arbeitsmarkt boomt. Besonders erfreulich ist die Situation im Appenzellischen und in Zürich. SonntagsBlick war zu Besuch in zwei ungleichen Arbeitsvermittlungszentren.
Publiziert: 31.12.2022 um 18:22 Uhr
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Aktualisiert: 31.12.2022 um 23:22 Uhr
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Nino Meli, RAV-Leiter in Appenzell Innerrhoden, ist froh, dass im gleichen Gebäude auch AHV und IV angesiedelt sind: «Sonst würden sich einige unserer Kunden wohl nur im Dunkeln aufs RAV trauen», sagt er.
Foto: Philippe Rossier

Das einzige Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) des Kantons Appenzell Innerrhoden hat seinen Sitz mitten im Hauptort, nur einen Steinwurf vom Bahnhof. Leiter Nino Meli (55) ist froh, dass im gleichen Gebäude AHV und IV angesiedelt sind: «Sonst würden sich einige unserer Kunden wohl nur im Dunkeln aufs RAV trauen.»

Arbeitslos zu sein, ist in der Schweiz noch immer mit Scham verbunden – im konservativen Appenzellerland stärker als anderswo. Doch in den vergangenen Monaten wurden viele von dieser Last befreit. Zählte RAV-Chef Meli vor einem Jahr mehr als 50 Arbeitslose im Kanton, sind es aktuell nur noch 31: «So wenige wie nie zuvor – und alle sassen mal in diesem Büro.»

Ende November 2022 meldete Appenzell Innerrhoden eine Arbeitslosenquote von 0,4 Prozent – ein Tiefstwert: Schweizweit betrug der Anteil der Jobsuchenden 2,0 Prozent. Das ist zwar deutlich mehr als im 16'000-Einwohner-Kanton, im Vergleich aber hervorragend: Seit 2003 lag die Kennzahl zur selben Jahreszeit nie auf so tiefem Niveau.

Hinter Zahlen stecken Schicksale

Die absoluten Zahlen sind noch beeindruckender: Im Schnitt der vergangenen 20 Jahre zählte die Schweiz Ende November 132'000 Arbeitslose. 2022 waren es lediglich 91'327 – und das trotz stark gestiegener Einwohnerzahlen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich innert zwölf Monaten gar halbiert.

Das liege nicht etwa an Faktoren, die das Bild verfälschen, so das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) auf Nachfrage. So habe es nicht besonders viele Aussteuerungen gegeben, welche die «ausserordentlich tiefe Arbeitslosigkeit» erklären und relativieren könnten.

Hinter den erfreulichen Zahlen stecken Tausende Einzelschicksale. RAV-Berater Meli kennt einige aus nächster Nähe. «Mit vielen Klienten entwickelt man eine enge Beziehung», sagt er. «Ich leide zum Beispiel mit, wenn sich jemand bemüht, aber Absage um Absage einstecken muss.»

In den vergangenen Monaten hatte Meli aber auch viele schöne Erlebnisse. Gerade an jenem Morgen sei eine Frau vorbeigekommen, die nach eineinhalb Jahren endlich eine neue Stelle gefunden habe. «Es ist eine sehr gut qualifizierte IT-Fachfrau, jedoch in einem extrem spezifischen Bereich», so Meli. Immer wieder habe sie vielversprechende Vorstellungsgespräche gehabt, sei am Ende aber nur zweite oder dritte Wahl geblieben. «Jetzt hat es endlich geklappt», sagt er – und strahlt. Zum Dank für seine Unterstützung habe sie ihm einen Biber vorbeigebracht. «Am liebsten würde man solche Momente aber natürlich mit einer Flasche Champagner feiern.»

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Solchen Rückgang «noch nie erlebt»

In Appenzell Innerrhoden genügen derzeit 1,5 Angestellte, um alle Arbeitslosen im Kanton zu betreuen. Vor ein paar Monaten waren es noch zwei Vollzeitstellen.

Was nach wenig klingt, ist verhältnismässig viel. In Winterthur ZH etwa, wo im Sulzerareal eines der grössten Arbeitsvermittlungszentren des Kantons Zürich steht, haben die RAV-Angestellten deutlich weniger Ressourcen. «Im Idealfall werden pro Personalberaterin oder -berater 130 Dossiers betreut», sagt Standortleiter Jürgen Fackelmayer (61).

Die Zahl der Klienten ist zuletzt auch in Winterthur stark zurückgegangen. Waren dort im Januar 2021 noch 5500 Stellensuchende angemeldet, sind es aktuell 2900. Dazu Fackelmayer: «Einen solchen Rückgang habe ich in meinen zwölf Jahren als RAV-Leiter im Kanton Zürich noch nie erlebt.»

Einen grossen Teil dieses Rückgangs führt der Experte auf Nachholeffekte im Gefolge der Corona-Krise zurück, zum Beispiel in der Gastronomie oder der Event-Branche. Da die Zahl der Arbeitslosen aber auch historisch gesehen sehr tief liege, müssten auch andere Faktoren eine Rolle spielen. «Es wurden in den vergangenen Monaten sehr viele neue Stellen geschaffen, die längst nicht alle besetzt werden können.»

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Psychische Probleme bei Jungen

Vor allem Fachkräfte sind laut Fackelmayer gesucht wie nie: «Wenn sich zum Beispiel ein Sanitär bei uns meldet, dann können wir ihn sehr schnell wieder vermitteln, weil wir wissen, welche Firmen händeringend nach guten Leuten suchen.» Und selbst für Angehörige der Altersgruppe 55 plus, die in den vergangenen Jahren zum Teil länger suchen mussten, könne es heute deutlich schneller gehen mit einer neuen Stelle.

Bei jenen Stellensuchenden, die trotz der guten Konjunktur für längere Zeit auf das RAV angewiesen bleiben, spielten häufig gesundheitliche Aspekte eine Rolle, so Fackelmayer: «Gerade Junge, die keine Stelle finden, kämpfen oft auch mit psychischen Problemen.»

Mit einer Arbeitslosenquote von 1,6 Prozent liegt auch Zürich unter dem Schweizer Durchschnitt. Von appenzellischen Verhältnissen kann der grösste Kanton des Landes aber nur träumen. RAV-Leiter Meli ist überzeugt, dass dies nicht nur mit der Kleinräumigkeit zu tun hat, sondern auch mit der Einstellung im Halbkanton: «Die Appenzeller stellen wenn immer möglich Appenzeller ein – und nicht Auswärtige.»

Ist der Ruf erst ruiniert, ...

Meli betont jedoch ausdrücklich, dass Ausländer, die in Appenzell leben, nicht zu den Auswärtigen gehören. «Diesbezüglich kann ich als zugezogener St. Galler sagen: Die Integration von Ausländern klappt in Appenzell besser als in vielen anderen Kantonen.»

Der Neo-Appenzeller räumt jedoch ein, dass die Kleinräumigkeit des Kantons auch negative Seiten habe: «Wenn hier mal jemand einen schlechten Ruf hat, dann wird er ihn kaum mehr los.» Für diese Leute sei es dann fast unmöglich, im Kanton eine Stelle zu finden.

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