Tiefere Zuwanderung, höheres Wachstum und weniger Arbeitslose als die Schweiz
Nachbarn entwickeln sich besser als wir

Die Volkswirtschaften vieler direkter Nachbarregionen sind seit der Jahrtausendwende stärker gewachsen als die Schweiz – obwohl oder gerade weil sie der EU angehören?
Publiziert: 06.06.2021 um 13:28 Uhr
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Aktualisiert: 06.06.2021 um 13:57 Uhr
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Der transalpine Raum ist wirtschaftlich generell stark: Produktionsstätte des Seilbahn-Herstellers Leitner im Südtirol.
Foto: Caro / Kaiser / FOTOFINDER.COM
Thomas Schlittler

Der Bundesrat hat das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union endgültig versenkt. Sieben Jahre Diskussion und Diplomatie – für nichts.

Der erste Akt dieses Trauerspiels wurde 1992 aufgeführt, als die Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) Nein sagte. Seither scheint festzustehen: Wir fahren besser, wenn wir nicht allzu stark in die EU eingebunden sind.

Aber stimmt das wirklich? Geht es der Schweiz, insbesondere der Schweizer Wirtschaft, heute tatsächlich besser, weil wir weder dem EWR noch der EU angehören?

Stellt man die Schweiz Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien gegenüber, liegt dieser Schluss nahe. Auch unser Lohnniveau und unsere Kaufkraft sind nach wie vor Weltspitze. Vergleichen wir aber unsere wirtschaftliche Entwicklung mit jener der Nachbarregionen, sind zumindest Zweifel an der angeblichen Überlegenheit des Schweizer Sonderwegs angebracht.

Eine Analyse von SonntagsBlick zeigt: Insbesondere die Volkswirtschaften der deutschsprachigen Nachbarn haben sich seit der Jahrtausendwende besser entwickelt als die der Schweiz.

Erster Indikator: die Zunahme des Bruttoinlandprodukts (BIP), also der Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb der Grenzen einer Volkswirtschaft produziert und erbracht werden.

In der Schweiz stieg das BIP von 2000 bis 2019 um 54 Prozent. Die süddeutschen Bundesländer Baden-Württemberg (plus 70) und Bayern (plus 77) sowie das italienische Südtirol (plus 77 Prozent) wuchsen im gleichen Zeitraum deutlich stärker. Die österreichischen Bundesländer Vorarlberg und Tirol konnten ihr BIP gar verdoppeln.

Die Arbeitslosenquote

Zweiter Indikator: die Arbeitslosenquote. Auch die entwickelte sich hierzulande in den vergangenen Jahren unterdurchschnittlich. Im Jahr 2000 hatten wir eine Arbeitslosenquote von 2,7 Prozent, damals ging es lediglich Südtirol mit 2,3 Prozent besser. 2020 wiesen wir eine Arbeitslosenquote von 4,8 Prozent aus – und rutschten damit ins Mittelfeld ab. Heute melden Bayern (2,6 Prozent), Tirol (3,1), Baden-Württemberg (3,2), Vorarlberg (3,6) und Südtirol (3,8) tiefere Arbeitslosenzahlen als die Eidgenossenschaft.

Spitzenreiter war die Schweiz einzig beim Bevölkerungswachstum. Getrieben durch die Zuwanderung, stieg die Einwohnerzahl seit der Jahrtausendwende von 7,2 auf 8,6 Millionen im Jahr 2020 – eine Zunahme von 20 Prozent.

Alle unsere unmittelbaren Nachbarregionen in Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich hatten eine geringere Zuwanderung – selbst bei wirtschaftlichem Erfolg und trotz EU-Mitgliedschaft.

Für Jan Atteslander (57), Leiter Aussenwirtschaft beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, zeigen die Zahlen: «Die Landesgrenzen entscheiden nicht alleine über Erfolg oder Misserfolg einer Volkswirtschaft, sondern wie gut sich Unternehmen grenzüberschreitend entfalten können.»

Der transalpine Raum sei wirtschaftlich generell stark – ob nun in Deutschland, Österreich, Italien oder Frankreich. «Alle Regionen zeichnen sich durch starke KMU und Familienunternehmen aus, die sich auf innovative und hochwertige Industrieprodukte spezialisiert haben», so Atteslander.

Blocher hält wenig vom Vergleich

SVP-Doyen Christoph Blocher (80) hält den Vergleich zwischen einzelnen Regionen und einer Nation für schwierig. «Genauso gut könnte man feststellen, dass der Kanton Zug in den vergangenen Jahren besser abgeschnitten hat als der Rest der Schweiz.»

Blocher weist zudem auf die unterschiedlichen Ausgangslagen hin: «Für Regionen wie Vorarlberg, die im Jahr 2000 auf einem deutlich tieferen Niveau waren als die Schweiz, war es natürlich einfacher, höhere Wachstumsraten zu erzielen. Das zeigen auch Schwellenländer wie China und Indien.»

Dennoch findet Blocher die Zahlen besorgniserregend: «Insbesondere die Tatsache, dass die Arbeitslosenquote in der Schweiz mittlerweile höher ist als in anderen Ländern und Regionen Europas, sollte uns zu denken geben.»

Als Ursache sieht er nicht den Schweizer Sonderweg, sondern die allzu starke Annäherung der Eidgenossenschaft an die EU: «Insbesondere die Personenfreizügigkeit – also die ungebremste Zuwanderung – war ein grosser Fehler.» Die Schweizer Löhne hätten eine ungeheure Anziehungskraft, nicht vergleichbar mit jener der Nachbarn. «Das Problem ist: Die Zuwanderer haben das Bruttoinlandprodukt pro Kopf nicht erhöht – zugleich ist die Arbeitslosenquote bei Ausländern aber überproportional hoch.»

Blocher sieht die Lösung in der Wiedereinführung von Kontingenten. «Dann kommen wirklich nur jene, die wir brauchen – und wenn sie keinen Job mehr haben, müssen sie wieder gehen.»

Liegt es am Wechselkurs?

Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), hat eine ganz andere Erklärung dafür, dass der Vorsprung der Schweiz gegenüber ihren Nachbarregionen geringer geworden ist: «Der Grund ist weder die EU noch der Europäische Wirtschaftsraum, sondern der Euro beziehungsweise der starke Franken.»

Der Wechselkurs sei für eine Exportnation wie die Schweiz extrem wichtig. Die Aufwertung des Frankens habe der Schweizer Exportwirtschaft in den vergangenen Jahren extrem geschadet – und unter anderem dazu geführt, dass im Vergleich zu unseren Nachbarregionen weniger Jobs geschaffen wurden.

«Um diese Entwicklung zu stoppen, muss die Schweiz ihre Geldpolitik überdenken», fordert Lampart. Die Nationalbank müsse stärker gegen die Überbewertung des Franken vorgehen und entsprechende Ziele formulieren.

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