Es ist eine Premiere: Seit letztem Dezember sass Jan-Egbert Sturm (51) nicht mehr an seinem Schreibtisch im verglasten Eckbüro an der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Nun ist er extra für das Interview mit Blick aus dem Homeoffice angereist, geforscht hat der Ökonom in diesem Jahr ausschliesslich von zu Hause aus. Das Gespräch beginnt mit einer inzwischen weit verbreiteten Begrüssungsformel.
Blick: Herr Sturm, sind Sie bereits geimpft?
Jan-Egbert Sturm: Ja, ich habe meine erste Impfung gehabt.
Die Zahl der Geimpften steigt rasant. Welche Rolle spielt der Impffortschritt bei der Erholung der Wirtschaft?
Der Impffortschritt spielt eine sehr grosse Rolle. Viele Menschen verstehen, dass, wenn wir dank der Impfung eine Art Herdenimmunität entwickeln, die Normalität zu einem grossen Teil wieder zurückkehren kann. Diese Aussichten machen es einfacher, auch die letzte Durststrecke zu überstehen.
Und das stimmt die Unternehmen zuversichtlich?
Die Firmen in der Schweiz sind so optimistisch wie schon lange nicht mehr. Die Weltkonjunktur ist trotz der Pandemie im Winterhalbjahr 2020/21 viel weniger stark eingebrochen, als das noch in der ersten Welle der Fall war. Die Wirtschaft hat sehr schnell gelernt, mit der Pandemie umzugehen. Dort, wo fleissig geimpft wird, sehen die Menschen endlich das Licht am Ende des Tunnels.
Jan-Egbert Sturm (53) leitet seit 2005 die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Das Wort des gebürtigen Holländers hat Gewicht: 2021 erreichte er Rang drei im «NZZ»-Ökonomen-Ranking, zudem sass Sturm in der Schweizer Corona-Taskforce. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie am Bodensee.
Jan-Egbert Sturm (53) leitet seit 2005 die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Das Wort des gebürtigen Holländers hat Gewicht: 2021 erreichte er Rang drei im «NZZ»-Ökonomen-Ranking, zudem sass Sturm in der Schweizer Corona-Taskforce. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie am Bodensee.
Haben die Ökonomen unterschätzt, wie robust die Wirtschaft ist?
Jede Krise ist anders als die vorhergehende. Das war bei Corona besonders ausgeprägt, die Pandemie ist nicht mit der Finanzkrise von 2008/09 zu vergleichen. Damals hat die Erholung viel länger gedauert. Das ist nun anders, es kommt tatsächlich zu einem V-förmigen Verlauf der Konjunktur. Das heisst, auf den steilen Absturz folgt postwendend eine rasante Erholung.
Was war denn bei der Finanzkrise anders?
Die Finanzkrise hat den Finanzsektor und vor allem auch die Industrie getroffen. Die Exporte brachen ein, die Produktion ist stark geschrumpft. Es dauerte lange, bis das alles wieder hochgefahren war. Corona hat die ganze Wirtschaft getroffen, alle auf einen Schlag. Vor allem beim Konsum war es, als hätte man einen Schalter umgelegt: Wir durften von einem Tag auf den anderen beispielsweise nicht mehr ins Restaurant.
Das geht nun wieder – und beflügelt so die Wirtschaft?
Ja, der Konsum wurde wieder eingeschaltet. Die Menschen konnten Geld für Dienstleistungen wie Restaurant- oder Kinobesuche oder auch Ferien sparen. Das Geld zum Konsumieren ist da, die Möglichkeiten zum Geldausgeben auch wieder vermehrt. Viele freuen sich darauf, endlich wieder shoppen oder ins Restaurant gehen zu können. Konsumentinnen und Konsumenten sind die grossen Treiber des Aufschwungs.
Das heisst, selbst die arg gebeutelte Gastrobranche darf hoffen?
Ja, das Gastgewerbe wird sich erholen, die Frage ist nur, in welchem Ausmass. Nicht alle werden sofort ins Restaurant stürmen, manche warten noch ab, bis sie die zweite Impfung haben zum Beispiel. Vor allem die inländischen Gäste kurbeln die Nachfrage an, gefolgt von Besuchern aus den Nachbarländern, die sich über die Grenze trauen.
Nur wer einen sicheren Job hat, gibt sein Geld mit vollen Händen aus. Wie ist die Situation am Arbeitsmarkt?
Das Instrument der Kurzarbeit hat enorm geholfen, viele Jobs sind deshalb erhalten geblieben. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit angestiegen, weil das Geschäftsmodell einiger Firmen nicht mehr voll funktionierte. Diese Unternehmen haben Stellen gestrichen. Mit dem Auslaufen der Kurzarbeit dürften weitere Jobs abgebaut werden, da manche Unternehmen ihre Geschäfte vielleicht doch aufgeben oder reduzieren müssen. Der Aufschwung schafft zwar neue Jobs, das Ende der Kurzarbeit wird aber auch aufzeigen, dass gewisse Stellen den Strukturwandel nicht überstehen. Deshalb hinkt die Erholung am Arbeitsmarkt der konjunkturellen Entwicklung hinterher.
«Talsohle ist hinter uns», lautete die Schlagzeile bei unserem letzten Interview vor einem Jahr – wo stehen wir denn heute?
Wir stecken mitten in einer kräftigen Erholung. Spätestens im Sommer ist die Schweizer Wirtschaft wieder so stark wie vor Corona. Vielleicht ist das sogar jetzt schon der Fall. Das ist eine sehr gute Nachricht!
Der Boom geht weiter?
Vorerst ja, es gibt auch mittelfristig noch genug Aufholpotenzial. Wir erwarten, dass die Wirtschaft bis zumindest Ende 2022 weiter wachsen wird. Dabei hilft auch die Weltkonjunktur, die in Asien bereits wieder auf Hochtouren läuft. Die riesigen Konjunkturpakete in den USA, aber auch in Europa sorgen für zusätzlichen Schub.
Wo steht die Schweizer Wirtschaft im internationalen Vergleich?
Der Wertschöpfungsrückgang war in der Schweiz weniger ausgeprägt als in vielen anderen europäischen Ländern. Die Schweizer Wirtschaftsstruktur mit ihren wichtigen Standbeinen Pharmaindustrie und Finanzsektor, aber auch die schnelle und unbürokratische Einkommens- und Existenzabsicherungen durch den Staat haben hier geholfen.
Wieso wurden die vom Bund bereitgestellten Gelder für Wirtschaftshilfen nicht ausgeschöpft?
Vielleicht wollte die Politik ein Zeichen setzen, hat nicht geknausert und signalisiert, dass die Töpfe mit Wirtschaftshilfen prall gefüllt sind. Das gab Sicherheit und Vertrauen, dass der Staat hilft, wenn die Not am grössten ist. Einzig bei den Härtefallmassnahmen war die Bürokratie hinderlich und hat Auszahlungen um mehrere Monate verzögert.
Was hätte eine schnellere Auszahlung gebracht?
Im Herbst 2020, auf dem Höhepunkt der zweiten Welle, wäre das Zeichen einer schnellen, unbürokratischen Hilfe sehr wichtig gewesen – für die Gewerbetreibenden, aber auch für die Bevölkerung im Allgemeinen. Im Gegensatz dazu lief die Vergabe der Covid-19-Kredite in der ersten Welle umso reibungsloser. Allerdings gilt auch, dass wir die negativen wirtschaftlichen Folgen insbesondere der zweiten Welle überschätzt haben, deshalb wurden wohl mehr Mittel zur Verfügung gestellt, als tatsächlich gebraucht wurden.
Das hat bislang auch eine Konkurswelle verhindert?
Ja, die Massnahmen des Bundes haben die Wirtschaft in eine Art Pandemieschlaf versetzt. Und im Schlaf geht niemand Konkurs. Umgekehrt gibt es Unternehmer, die auch während der Krise neue Geschäftsmöglichkeiten entdeckt und entsprechend Firmen gegründet haben, die zum Beispiel einen Lieferservice aufgebaut oder ihren Verkauf mittels Onlinehandelsplattform digitalisiert haben.
Zusammen mit anderen Ökonomen haben Sie ein Hilfspaket von 100 Milliarden Franken und eine Art Reichensteuer gefordert. War das im Nachhinein übertrieben?
Das 100-Milliarden-Paket war als Signal zu verstehen, dass der Staat in Zeiten der Not für alle da ist – koste es, was es wolle. So ein Signal schafft Vertrauen und Zuversicht. In der Diskussion, wie wir zukünftig die erhöhten Staatsschulden finanzieren sollten, war meine Aussage nur, dass auch die Wirtschaft, die von dieser staatlichen Unterstützung stark profitiert, ihren Beitrag leisten sollte. Da das Ausmass der Neuverschuldung im Fall der Schweiz sozusagen überschaubar ist, denke ich, dass die bestehenden Mechanismen ausreichen werden, um im Lauf der Zeit wieder auf einen Vorkrisenstand der Verschuldung zurückzukehren.
Was muss die Schweiz beim Krisenmanagement verbessern?
Es ist immer schwierig, in einer Krise genau das Richtige zu tun. Aber die Schweiz hat in der ersten Welle rasch reagiert und Massnahmen ergriffen. Auch die Wirtschaftshilfen in der ersten Welle waren schnell aufgegleist. Die Verlängerung der Kurzarbeit oder die Covid-19-Kredite, das ging sehr schnell und unbürokratisch. Schneller als in anderen Ländern. Das hätte man kaum besser machen können.
Was lief denn nicht so optimal?
Im Sommer hat der Bundesrat – auch auf Druck der Kantone – die Krise sehr schnell von der ausserordentlichen zur besonderen Lage herabgestuft. Das hat den Kantonen mehr Spielraum eröffnet, aber auch Prozesse verlangsamt. Das war im Herbst, beim Anrollen der zweiten Welle ein Nachteil, wir waren in vielerlei Hinsicht zu langsam und gingen mit relativ hohen Fallzahlen hinein. Denn es gilt, exponentielles Wachstum der Fallzahlen zu verhindern – und dabei ist das Tempo das Wichtigste.
Hat die Schweiz das Leben ihrer Bürger riskiert, um die Wirtschaft zu schützen?
Bei einem starken Ausbruch einer solchen Pandemie ist der Staat gefordert, sowohl seine Bürger und Bürgerinnen als auch die Wirtschaft zu schützen. In solchen Phasen gehen Gesellschaft und Wirtschaft Hand in Hand und es gilt, unter hohem Zeitdruck Massnahmen umzusetzen, die das exponentielle Wachstum der Pandemie stark verlangsamen. Tempo ist das A und O: um die Kontrolle nicht zu verlieren und um Infrastrukturen des Gesundheitswesens vor Überlastung und Kollaps zu schützen.
Das bedeutet?
Ohne Massnahmen ist das Chaos vorprogrammiert, das auch der Wirtschaft enorm schadet. Natürlich gibt es Feinabstimmungsbedarf. Ich glaube nicht, dass die Schweizer Politik per se die falschen Massnahmen umgesetzt hat. In der Rückschau spielten sicher auch der Föderalismus und Interessenpolitik eine Rolle, die von Spezialisten noch genauer aufgearbeitet werden muss. Klar ist, dass eine Reihe von Todesfällen hätte verhindert werden können, wenn im Herbst schneller und dezidierter gehandelt worden wäre. Das sollte uns eine Lehre sein.