In sechs Wochen entscheidet das Stimmvolk gleich über zwei Vorlagen, die die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) betreffen: Die Initiative des Gewerkschaftsbundes will eine 13. AHV-Rente einführen, die Jungfreisinnigen fordern eine automatische Erhöhung des Rentenalters, sofern die Lebenserwartung weiter steigt.
Severin Moser (61), Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, beurteilt die beiden Vorlagen komplett unterschiedlich – und bezeichnet jene, die auf einen Ausbau des Sozialwerks abzielt, als «unfair und unsozial».
Blick: Herr Moser, am 3. März stimmen wir über eine 13. AHV-Rente ab. Im Abstimmungsbüchlein schreiben die Initianten: «Wer ein Leben lang gearbeitet und in die Altersvorsorge einbezahlt hat, verdient eine anständige Rente.» Einverstanden?
Severin Moser: Absolut. Zur Altersvorsorge gehört aber auch die Pensionskassenrente, die bei vielen deutlich höher ist als die AHV.
Die Verfassung verlangt jedoch explizit, dass die AHV den «Existenzbedarf» im Alter «angemessen» decken soll. Ist das heute der Fall?
Das hängt von den Lebensumständen ab. Nur schon, ob man in der Stadt Zürich oder auf dem Land lebt, macht einen grossen Unterschied. Es gibt sicher Menschen, deren Rente nicht reicht. Eine Studie der Universität Genf zeigt aber, dass verarmte Rentner kein Massenphänomen sind. Im Gegenteil: Viele Pensionierte stehen finanziell sehr gut da. Das durchschnittliche Median-Nettovermögen der Rentner ist sechsmal höher als jenes der Erwerbstätigen.
Auf der anderen Seite gibt es 220'000 Rentnerinnen und Rentner, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind. Das ist frustrierend für jene, die ein ganzes Leben lang gearbeitet haben.
Wer sein ganzes Leben lang gearbeitet und in die Pensionskasse eingezahlt hat, ist kaum auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Aber ja: Es gibt Härtefälle – und es ist absolut richtig, dass diese Unterstützung erhalten. Es ist aber falsch, deswegen eine 13. AHV-Rente für alle einzuführen, welche die grosse Mehrheit der Rentner gar nicht nötig hat.
Was stört Sie sonst an der Initiative?
Die Initiative ist verantwortungslos, weil sie nichts sagt über die Finanzierung. Um das Ganze zu stemmen, müssten die Lohnabgaben, die Mehrwertsteuer und/oder die Bundessteuer erhöht werden. Das trifft die Erwerbstätigen, insbesondere die Jungen und den Mittelstand. Sie würden an Kaufkraft verlieren und müssten schmerzhafte Einsparungen machen. Besonders betroffen wären Leute mit einem kleinen Budget, etwa Alleinerziehende. Das ist unfair und unsozial.
Gemäss Abstimmungsbüchlein müssten die Lohnbeiträge von 8,7 auf 9,4 Prozent erhöht werden, um die 13. AHV-Rente zu finanzieren. Bei einem Jahresbruttolohn von 50 000 Franken wären das für den Arbeitnehmer zusätzliche Abzüge von 175 Franken pro Jahr. Als Rentner würde diese Person dann aber pro Jahr mindestens 1225 Franken mehr Rente bekommen. Für Menschen mit geringem Einkommen ginge die Rechnung also auf.
Es kommt immer darauf an, wie viele Jahre jemand einzahlt und wie viele Jahre am Ende eine Rente bezogen wird. Aber es ist klar: Bei einer Erhöhung der Lohnbeiträge würden Gutverdienende verhältnismässig stärker belastet – aber auch die Unternehmen. Das würde den Produktionsfaktor Arbeit verteuern und den Standort Schweiz schwächen. Für unsere Firmen wäre es schwieriger, konkurrenzfähig zu bleiben.
Die Unternehmen wurden in den vergangenen Jahren stark entlastet. 2005 belief sich der durchschnittliche Gewinnsteuersatz in den Kantonen gemäss KPMG auf 22 Prozent, 2023 waren es noch 14,6 Prozent. Wären jetzt nicht mal die kleinen Leute dran?
Gewinne werden nicht nur von den Unternehmen versteuert, sondern auch von den Aktionären. Von daher findet eine Mehrfachbesteuerung statt. Zudem sind tiefe Steuern wichtig, um Firmen attraktive Rahmenbedingungen bieten zu können. Unter anderem deshalb sind unsere Unternehmen so erfolgreich, können hohe Löhne bezahlen, Lohnerhöhungen und gesunde Pensionskassen finanzieren – die steuerlichen Rahmenbedingungen sind sehr bedeutend. Deshalb und wegen der Stabilität, der hohen Lebensqualität und der hochklassigen Bildungsinstitutionen ziehen Firmen in die Schweiz, die hier Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung schaffen.
Gemäss Tamedia-Umfrage hat die 13. AHV-Rente aktuell eine Zustimmungsrate von 71 Prozent. Selbst bei bürgerlichen Wählern sind die Sympathien gross. Ist die Sache gelaufen?
Das ist besorgniserregend, doch es ist noch nichts verloren. Die hohe Zustimmung erklärt sich wohl dadurch, dass die Initiative wie gesagt nur über das Geldverteilen spricht. Wir müssen den Leuten deshalb klarmachen, dass die AHV heute schon in einem schlechten Zustand ist und eine zusätzliche, jährliche Belastung im ersten Jahr von rund 4,1 Milliarden Franken und in den Folgejahren laufend höhere Beiträge von fünf Milliarden und mehr nicht verkraftbar wären. Die Gegenseite ist diesbezüglich nicht ehrlich. Gerade die ältere Generation muss sich überlegen, ob sie dies ihren Kindern und Enkeln aufbürden will.
Die Jungfreisinnigen haben komplett andere Pläne. Mit ihrer Renten-Initiative wollen sie das Rentenalter bis 2032 auf 66 Jahre erhöhen. Danach soll es automatisch weiter steigen, sofern auch die Lebenserwartung weiter zunimmt. Was halten Sie davon?
Wir werden immer älter, deshalb müssen wir diese Diskussion führen. Als die AHV 1948 eingeführt wurde, kamen auf einen Rentner sechs Erwerbstätige. Heute sind es noch drei. Wenn wir diesen Generationenvertrag retten wollen, haben wir deshalb nur drei Möglichkeiten: Prämien erhöhen. Leistungen kürzen. Oder Rentenalter erhöhen. Die Renten-Initiative setzt am dritten Hebel an, ohne zu übertreiben.
Sie unterstützen also die Vorlage?
Ich stimme mit Ja – und auch der Arbeitgeberverband empfiehlt die Initiative zur Annahme. Wir müssen dafür sorgen, dass die Leute länger arbeiten, nicht nur wegen der AHV, sondern auch wegen des Arbeitskräftemangels. Andere europäische Länder haben längst Rentenalter 67 eingeführt.
Das bedeutet noch lange nicht, dass wir Schweizer tatsächlich weniger arbeiten als andere. In Deutschland zum Beispiel liegt das offizielle Rentenalter derzeit bei 65,8 Jahren und soll schrittweise auf 67 erhöht werden. In der Praxis gehen deutsche Männer aber gemäss OECD mit 63,7 Jahren in Rente – deutlich früher als die Schweizer.
Ich weiss nicht, wie die Übergangslösungen in anderen Ländern aussehen. Der Trend zeigt auf jeden Fall nach oben, und zumindest in der Schweiz ist das offizielle Rentenalter massgebend dafür, wie lange die Menschen berufstätig bleiben. Meiner Meinung nach ist es etwas Positives, wenn die Menschen länger arbeiten. Arbeiten ist nichts Schlechtes und bringt auch Erfüllung. Viele arbeiten nicht nur wegen des Geldes, sondern weil sie es gerne machen.
In Branchen wie der Logistik oder der Reinigung dürfte das eher eine Minderheit sein.
Auch viele Büezer arbeiten gerne länger als bis 65. Vor ein paar Jahren habe ich zusammen mit einem pensionierten Zimmermann unser Haus ausgebaut. Er arbeitete freiwillig noch zwei, drei Tage pro Woche, weil er das gerne machte. Jeder soll für sich selbst entscheiden können, wann und wie er nach der Pensionierung kürzertreten will.
Das klingt schön und gut. Eine Frühpensionierung ist meist aber nur für Gutverdiener möglich. Eine automatische Erhöhung des Rentenalters würde deshalb vor allem Geringverdiener treffen.
Natürlich ist der finanzielle Aspekt wichtig, wenn es um eine Frühpensionierung geht. In Branchen mit höheren Löhnen ist das eher möglich. Wer früher in Pension geht, leistet aber auch einen Beitrag an die AHV, weil sie oder er eine deutlich tiefere Rente bekommt als bei einer ordentlichen Pensionierung. Das ist richtig so. Doch jetzt muss auch längeres Arbeiten endlich attraktiver werden.
Wie bringen wir das hin?
Firmen müssen vermehrt Karrieremodelle entwickeln, wie sie Fach- und Führungskräfte über das offizielle Pensionsalter hinaus beschäftigen können. Die Politik wiederum muss Anreize schaffen, damit sich längeres Arbeiten wirklich lohnt. Zum Beispiel könnten wir alle, die über das Pensionsalter hinaus arbeiten, von den AHV-Beiträgen befreien. Im Minimum sollten die AHV-Freibeträge erhöht werden. Eine andere Möglichkeit wäre, die maximale AHV-Rente über das heutige Mass hinaus für jene zu erhöhen, die über das Pensionsalter hinaus arbeiten.