80 Prozent der russischen Rohstoffe werden über die Schweiz gehandelt. So zumindest steht es in einem Bericht der Schweizer Botschaft in Moskau. Ob die Zahl stimmt? Unklar. Der Rohstoffsektor ist vor allem eines: undurchsichtig. Das wird für die Schweiz im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zunehmend zu einem Imageproblem. Die Schweizer Rohstofffirmen stehen international im Verdacht, die Kriegskasse Putins zu füllen.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) schreibt, dass in der Schweiz schätzungsweise 900 Unternehmen im Rohstoffhandel tätig sind. 10'000 Arbeitsplätze hingen von der Branche ab. Das Aussendepartement (EDA) schreibt hingegen von 550 Unternehmen mit 35'000 Arbeitsplätzen. Nach einer Blick-Anfrage rudern die Behörden zurück. Die EDA-Zahlen seien veraltet. Warum es neuerdings mehr Firmen, aber weniger Jobs sein sollen, bleibt offen.
«Es hängt eben davon ab, ob man jeden Tankwart zählt oder nur die Händler im engeren Sinne», erklärt die Ökonomin und Rohstoff-Expertin Cornelia Meyer. So oder so, die Rohstoffbranche stellt höchstens 0,1 Prozent der Schweizer Firmen und 0,2 Prozent der hiesigen Arbeitsplätze dar.
Rohstoffmultis überflügeln andere Branchen
Allerdings: Gleich sieben der zehn umsatzstärksten Schweizer Konzerne sind im Rohstoffgeschäft tätig. Zu den Riesen gehören etwa Glencore, Gunvor und Vitol. Alleine Glencore hat im vergangenen Jahr einen Umsatz von 200 Milliarden Dollar erzielt. Das ist mehr als doppelt so viel wie Nestlé und sogar mehr als das Dreifache des Roche-Umsatzes. Die Rohstofffirmen tragen je nach Schätzung zwischen 4 und 5 Prozent zum Schweizer BIP bei – mehr als etwa der Tourismussektor oder die Maschinenindustrie.
In einigen Regionen ist die Abhängigkeit von der Branche besonders frappant: In den Kantonen Zug, Genf, Waadt und Tessin stammen 10 bis 20 Prozent der Unternehmenssteuern aus dem Rohstoffsektor, gibt das Seco auf Anfrage bekannt.
Nahe liegt der Schluss, dass die betroffenen Kantone sich gegenüber den Rohstoffmultis entgegenkommend zeigen. Die Zuger Wirtschaftskammer und die Genfer Handelskammer etwa sitzen im Branchenverband STSA. Gemeinsam unter anderem mit den Schweizer Ablegern der russischen Gazprombank, mit Nord Stream sowie mit der East Metals AG – die wiederum mit dem sanktionierten Oligarchen Roman Abramowitsch (50) verbandelt ist. Aufgrund seiner Russia-Connection sah sich der Kanton Zug kürzlich gar zu einer Medienkonferenz gedrängt, einzig um klarzustellen, dass man weder Bananenrepublik noch Hort für russische Oligarchengelder oder Briefkastenfirmen sei.
Kaffeesatzlesen bei den Steuereinnahmen
Wie viel Steuern die Rohstoffkonzerne in der Schweiz genau abliefern, bleibt offen. Der ehemalige Glencore-Chef Ivan Glasenberg (65) sagte auf eine Frage der SP-Nationalrätin Jacqueline Badran (60) einmal, sein Konzern bezahle «zero taxes». Die Aussage hat unter Kritikern des Rohstoffsektors Legendenstatus erlangt.
Zu ihnen gehört Oliver Classen. Er ist Sprecher der auf den Rohstoffsektor spezialisierten Nichtregierungsorganisation Public Eye. «Wie viel die Rohstofffirmen tatsächlich zu den Steuereinnahmen in der Schweiz beitragen, ist Kaffeesatzlesen», sagt Classen.
Die Vermutung von Public Eye: Dank Steuerprivilegien liefere der Rohstoffsektor trotz Milliardenumsätzen nur wenig Geld an den Fiskus ab. Entsprechend tief sei auch der wirtschaftliche Nutzen der Branche.
Ökonomin Cornelia Meyer widerspricht: «Der Rohstoffhandel ist positiv für unsere Wirtschaft. Jede Präsenz auf dem internationalen Parkett ist für uns von Vorteil – wenn man ethisch korrekt arbeitet.»
Selbst die Geschichte des internationalen Rohstoffhandels in der Schweiz ist umstritten. Die Erzählung von Branche und Bund: Die Schweiz sei mit ihrer zentralen Lage mitten in Europa ideal als Handelsplatz situiert. Henri Nestlé (1814–1890), Gründer und Namensgeber des gleichnamigen Lebensmittelmultis, habe als Pionier im 19. Jahrhundert mit dem Handel von Säuglingsnahrung den Grundstein für die spätere Rohstoffdrehscheibe gelegt.
Die Erzählung von Public Eye: Die Mischung aus Steuerprivilegien, starkem Finanzplatz und schwacher Regulierung mache die Schweiz zum idealen Standort für die internationalen Rohstoffkonzerne. Mit der Globalisierung hat die Branche in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts Hochkonjunktur erlebt.
Eine Figur war für den Erfolg der Schweizer Rohstoffdrehscheibe prägend: Marc Rich (1934–2013). Der ebenso legendäre wie umstrittene Rohstoffhändler gründete in den 70er-Jahren die Marc Rich + Co AG mit Sitz in Zug – die Vorgängerin der heutigen Glencore. Rich betrieb unter anderem Handel mit dem südafrikanischen Apartheidregime sowie mit Kuba unter Fidel Castro (1926–2016) und bezog Öl aus dem Iran.
Selbst die Geschichte des internationalen Rohstoffhandels in der Schweiz ist umstritten. Die Erzählung von Branche und Bund: Die Schweiz sei mit ihrer zentralen Lage mitten in Europa ideal als Handelsplatz situiert. Henri Nestlé (1814–1890), Gründer und Namensgeber des gleichnamigen Lebensmittelmultis, habe als Pionier im 19. Jahrhundert mit dem Handel von Säuglingsnahrung den Grundstein für die spätere Rohstoffdrehscheibe gelegt.
Die Erzählung von Public Eye: Die Mischung aus Steuerprivilegien, starkem Finanzplatz und schwacher Regulierung mache die Schweiz zum idealen Standort für die internationalen Rohstoffkonzerne. Mit der Globalisierung hat die Branche in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts Hochkonjunktur erlebt.
Eine Figur war für den Erfolg der Schweizer Rohstoffdrehscheibe prägend: Marc Rich (1934–2013). Der ebenso legendäre wie umstrittene Rohstoffhändler gründete in den 70er-Jahren die Marc Rich + Co AG mit Sitz in Zug – die Vorgängerin der heutigen Glencore. Rich betrieb unter anderem Handel mit dem südafrikanischen Apartheidregime sowie mit Kuba unter Fidel Castro (1926–2016) und bezog Öl aus dem Iran.
Selbst Energiewende bringt wenig
Genau das jedoch kreiden die Kritiker von Public Eye und Co. den Rohstofffirmen an. Sie seien skrupellos, würden etwa trotz Ukraine-Krieg weiterhin mit russischem Öl und Gas handeln. So hat sich die Firma Trafigura mit Handelszentrale in Genf im März zur globalen Nummer zwei im Handel mit russischem Öl aufgeschwungen. Dies während andere ihr Handelsvolumen zurückgefahren haben.
Das ist – unter Einhaltung der Sanktionen – zwar legal, moralisch aber problematisch. Meyer sieht es anders. Frei nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» («im Zweifel für den Angeklagten») geht sie davon aus, dass der Grossteil der Rohstoffhändler korrekt geschäfte.
Bundesrat Guy Parmelin (62) gibt ihr recht. «Die Kritik am Rohstoffhandel ist unfair. Wenn Fachleute von Genf oder Zug aus weltweit den Handel mit Lebensmitteln erleichtern, ist das doch eine gute Sache. Wenn wir diese Dienstleistungen nicht ermöglichen, werden es andere Länder tun», sagte er letzte Woche in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger».
Meyer doppelt nach: «Irgendwie müssen wir unsere Häuser heizen. Irgendwoher brauchen wir die seltenen Erden für unsere Smartphones.» Selbst bei einer Umstellung auf erneuerbare Energien ist man noch nicht aus dem Schneider: Auch Windräder und Solarpanels brauchen Stahl – zum Beispiel solchen aus Russland.
«Alimentieren autokratische Regimes»
Wenn die Rohstoffhändler aus der Schweiz abwandern würden, etwa nach Dubai oder Singapur, würden sie schlechter kontrolliert, so Fürsprecher der Branche. Wobei die Kontrollen in den Augen von Public Eye auch hierzulande völlig unzureichend sind. «Wir alimentieren damit systematisch autokratische Regimes – wie das Putins», kritisiert Classen.
Den Sektor aus dem Land zu verbannen, hält er aber für kontraproduktiv. «Die Schweizer Politik muss hier endlich Verantwortung übernehmen.» Dazu fordert Public Eye die Schaffung einer Rohstoffmarktaufsicht (Rohma), analog zur Finanzmarktaufsicht (Finma) für den Bankensektor. Dass die Milliardenkonzerne ob strengerer Richtlinien das Land verlassen könnten, hält Classen für eine «leere Drohung».
Ein Handelsembargo für russisches Öl und Gas würde Classen begrüssen. Meyer ist zurückhaltender. In Eigenregie kann die Schweiz ein entsprechendes Embargo aufgrund der Neutralität sowieso nicht erlassen. Sie vollzieht wenn schon EU-Sanktionen. Vorerst aber werden weiterhin Schweizer Häuser mit russischem Gas beheizt. Und weiterhin laufen tonnenweise russische Rohstoffe über die Schreibtische und Bildschirm der Schweizer Händler. Ohne dass die Ware dabei jemals die Schweizer Grenze passieren muss.