Am 24. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Als Reaktion darauf hat die Schweiz – im Einklang mit der EU – mehr als 1000 Russinnen und Russen sanktioniert. Besitzen diese Personen hierzulande Vermögenswerte, sind diese seit Monaten eingefroren.
Doch nicht alle Russen, die auf der Sanktionsliste stehen, wollen dies akzeptieren. Einige bestreiten vehement, zum Machtzirkel von Wladimir Putin (70) zu gehören – und fordern deshalb, von der Sanktionsliste gestrichen zu werden.
Mehrere Delisting-Gesuche gestellt
Um dies zu erreichen, können die Betroffenen beim Bund ein sogenanntes Delisting-Gesuch stellen. Das ist in mehreren Fällen auch geschehen, wie das zuständige Wirtschaftsdepartement (WBF) gegenüber SonntagsBlick bestätigt. «Es wurden fünf Gesuche eingereicht», sagt eine Sprecherin.
Um wen es sich bei den Betroffenen handelt, verrät der Bund nicht. Auch über den aktuellen Stand hüllen sich die Behörden in Schweigen. «Zu einzelnen Verfahren können wir uns nicht äussern», so das Mantra.
Theoretisch läuft das Verfahren so ab: Das WBF prüft die eingereichten Gesuche und stellt eine anfechtbare Verfügung aus – am Ende entscheidet der Gesamtbundesrat über ein allfälliges Delisting. «Somit ist die Rechtsstaatlichkeit vollumfänglich gewahrt», betonen die Verantwortlichen.
Sanktionierte Russen warten teilweise seit Frühling
Die sanktionierten Russen, die ihr Gesuch teilweise bereits im Frühling eingereicht haben, sehen es anders. Ihre Anwälte monieren, dass sie seit Monaten auf einen Entscheid des WBF und des Bundesrates warten – und deshalb auch keine Möglichkeit haben, den Rechtsweg zu beschreiten, um gegen die Sanktionen vorzugehen.
Einer der Betroffenen ist Alexander Pumpyansky (35), schweizerisch-russischer Doppelbürger aus Genf. Er steht auf der Sanktionsliste des Bundes, weil sein Vater Dmitry Pumpyansky (58) ein milliardenschwerer russischer Stahlunternehmer ist.
Pumpyansky junior, dessen drei Kinder in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, machte im SonntagsBlick bereits im Sommer darauf aufmerksam, dass er wegen der Sanktionen nicht mehr hier leben könne. «Ich bin aber kein Oligarch», klagte er.
Pumpyansky stellte Gesuch im März
Ob Pumpyansky tatsächlich zu Unrecht auf der Sanktionsliste steht, lässt sich aus der Ferne kaum beurteilen. Mit Sicherheit heikel ist jedoch: Er hat sein Delisting-Gesuch bereits Ende März eingereicht und wartet noch immer auf eine Antwort aus Bern.
«Das ist staatsrechtlich höchst fragwürdig», sagt FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann (59, ZH). Der Vizepräsident der Aussenpolitischen Kommission findet es zwar richtig, dass sich die westliche Welt dem russischen Aggressor geeint gegenüberstellt. Auch Sanktionen gegen Einzelpersonen hält er für ein probates Mittel. Portmann betont aber: «Wer auf der Sanktionsliste landet, muss dafür eine nachvollziehbare Begründung erhalten – und die Möglichkeit haben, juristisch gegen die Sanktionierung vorzugehen.»
Untragbare Kriterien?
Aktuell ist dies laut Portmann nicht der Fall: «Ursprünglich war der Bund nicht einmal in der Lage, Dokumente und Informationen darüber zu liefern, auf welcher Grundlage die Sanktionen ausgesprochen worden waren.» Das WBF habe die entsprechenden Akten zuerst bei der EU anfordern müssen. Die aber seien in mehreren Fällen, von denen er Kenntnis habe, sehr dürftig gewesen. Portmann: «Die EU stützte sich nicht etwa auf verifizierte Informationen von Geheimdiensten, sondern auf Artikel irgendwelcher Online- oder Boulevardmedien.» Das sei angesichts der Folgen, die eine Sanktionierung nach sich ziehe, absolut untragbar.
Das WBF von Bundesrat Guy Parmelin (62) will sich zum Inhalt der EU-Dossiers nicht äussern. Das Amt betont jedoch, dass die Schweizer Behörden diese Informationen «analysieren und plausibilisieren» und zudem eigene Abklärungen durchführen. «Auf dieser Grundlage entscheidet dann das WBF respektive der Bundesrat über Delisting-Gesuche», so eine Sprecherin.
Weiter betonen die Verantwortlichen, dass die Schweiz über Delisting-Gesuche und Anpassungen der Sanktionsliste «vollkommen autonom» entscheide.
Schweiz ist ausgeschlossen
Aussenpolitiker Portmann bezweifelt dies. Er bemängelt, dass die Schweiz bei der Erstellung der Sanktionsliste komplett ausgeschlossen werde: «Auf meine Intervention hin hat der Bundesrat Ende August zwar bei der EU angefragt, ob die Schweiz zumindest als Beobachterin dabei sein könne, wenn über die Anpassungen der Sanktionen diskutiert werde. Die EU hat dies aber abgelehnt.»
Somit erfahre die Eidgenossenschaft nach wie vor erst durch eine Veröffentlichung auf der EU-Website, wie die Sanktionsliste angepasst wurde – und habe dann 48 Stunden Zeit, die Anpassungen zu übernehmen. «Das ist eines souveränen Staates unwürdig», so Portmann.
«Es besteht kein Automatismus»
Das WBF wehrt sich gegen diese Lesart. Zwar bestätigt das Amt, dass der Schweiz die definitiven Beschlüsse der EU erst nach deren offizieller Veröffentlichung zugänglich seien. Man sei aber weder politisch noch rechtlich verpflichtet, sich EU-Sanktionen anzuschliessen. Eine Sprecherin betont: «Es besteht in diesem Kontext kein Automatismus und schon gar keine Frist von 48 Stunden.»
Die Praxis ergibt ein anderes Bild. So verkündete das WBF zum Beispiel am 16. März, dass 197 Personen neu den Finanz- und Reisesanktionen unterstellt seien – und dass sich die Schweiz mit dieser Anpassung den Änderungen der EU angeschlossen habe, welche Brüssel am 15. März publiziert habe. Das WBF brauchte also keine 24 Stunden, um seriös zu überprüfen, ob die 197 sanktionierten Personen dem Kreml tatsächlich nahestehen.
Eine beeindruckende Leistung.