«Das führt nur zu mehr Opfern»
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EU-Botschafter Mavromichalis:«Das führt nur zu mehr Opfern»

EU-Botschafter Petros Mavromichalis kritisiert Bundesrat
«Mich erstaunt die Geheimniskrämerei»

Die Schweiz könne mehr für die Ukraine tun, sagt EU-Botschafter Petros Mavromichalis. Dem Bundesrat wirft er Geheimnistuerei in der Europapolitik vor.
Publiziert: 24.09.2022 um 19:02 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2022 um 22:19 Uhr
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EU-Botschafter Petros Mavromichalis empfängt SonntagsBlick in seiner Residenz in Bern.
Foto: Karl-Heinz Hug
Interview: Gieri Cavelty und Danny Schlumpf

Herr Mavromichalis, Putins Kriegserklärung gilt unmittelbar dem Westen. Am Mittwoch sagte er: Washington und Brüssel hätten Kiew dazu gedrängt, keine Kompromisse mit Moskau zu schliessen. Was wissen Sie davon?
Petros Mavromichalis: Das ist eine weitere Lüge von Putin. Die Ukraine hat mit Russland autonom verhandelt und ist von sich aus zum Schluss gekommen: Die russischen Bedingungen waren und sind unannehmbar. Wir helfen der Ukraine lediglich, sich zu verteidigen.

Putin droht mit Atomwaffen. Besteht die Gefahr, dass sich einzelne Staaten in der EU davon beeindrucken lassen?
In der EU ist die Unterstützung der Ukraine unbestritten. Würden wir die Ukraine im Stich lassen, wäre die Geschichte nicht zu Ende. Wir wissen, dass Diktatoren wie Putin keinen Halt machen, wenn man sie gewähren lässt. Wir haben so etwas 1938 schon einmal erlebt, als man Hitler mit Beschwichtigungspolitik beikommen wollte.

Was muss denn passieren, damit der Westen mit eigenen Truppen in den Krieg eingreift?
Diesen Plan gibt es nicht. Auch die Ukraine beantragt das nicht. Wir unterstützen sie mit Geld, Material und humanitärer Hilfe. Und zwar so lange, bis die Ukraine diesen Krieg gewinnt.

In Russland gibt es Massenproteste und Verhaftungen. Was kann Europa für die Russinnen und Russen tun, die den Krieg ablehnen und raus aus Putins Reich wollen?
Wir schützen Dissidenten aus allen Ländern. Aber wir müssen sorgfältig prüfen, ob Schutzbedürftige oder zweifelhafte Personen kommen. Klar ist, dass wir keinen Streit mit dem russischen Volk haben. Es ist eine kleine Clique um Wladimir Putin, die diesen Krieg vom Zaun gebrochen hat.

Was kann Europa denn konkret tun?
Die Tür offen lassen für Gespräche, wenn sich in Russland etwas ändert und eine vernünftige Führung an der Macht ist.

Das heisst: Europa kann gar nichts tun.
Aktuell sind unsere Beziehungen mit Russland an einem toten Punkt. Die Lage ist schlimm, für die Ukrainer wie für die russische Bevölkerung.

Und die Schweiz – tut sie genug?
Die Schweiz trägt die Sanktionen der EU mit. Das begrüssen wir. Das heisst aber nicht, dass sie nicht mehr tun könnte. Ich denke da insbesondere an die Hilfe für die Ukraine. Leider hat es der Bundesrat kürzlich abgelehnt, dass ausländische Staaten Waffen aus Schweizer Produktion an die Ukraine liefern können. Das ist eine verpasste Gelegenheit, etwas Gutes zu tun. Auch der Export von Schutzgütern wie Helmen und Westen in die Ukraine ist verboten – dabei würde solches Material nicht nur den Soldaten zugutekommen, sondern beispielsweise auch dem Sanitätspersonal.

Zur Person

Petros Mavromichalis (58) ist seit zwei Jahren EU-Botschafter in der Schweiz. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter. Der griechisch-belgische Doppelbürger spricht sieben Sprachen – das Interview mit SonntagsBlick wurde denn auch auf Deutsch geführt.

Petros Mavromichalis (58) ist seit zwei Jahren EU-Botschafter in der Schweiz. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter. Der griechisch-belgische Doppelbürger spricht sieben Sprachen – das Interview mit SonntagsBlick wurde denn auch auf Deutsch geführt.

Von verpassten Gelegenheiten könnte man auch bei den bilateralen Beziehungen sprechen. Seit Jahren wird um eine institutionelle Lösung gerungen. Wo stehen die Verhandlungen heute?
Es gibt im Moment keine Verhandlungen, sondern erst Sondierungsgespräche mit Staatssekretärin Livia Leu. Der Bundesrat hat die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen im Mai 2021 abgebrochen. Anfang 2022 hat er entschieden, einen neuen Weg zu suchen.

Der darin besteht, statt eines umfassenden Rahmenabkommens jeden Bereich von der Personenfreizügigkeit bis zum Landverkehr einzeln institutionell zu regeln. Was halten Sie davon?
Wir wollen schauen, ob der vom Bundesrat vorgeschlagene Weg zu einer Lösung der institutionellen Fragen führen kann. Aber es gibt Unklarheiten. Wir sind noch nicht überzeugt, dass der neue Ansatz die Probleme lösen würde.

Warum nicht?
Jedes Abkommen einzeln zu regeln, ist nicht der von uns bevorzugte Weg. Wir sagen nicht Nein, aber im Endergebnis brauchen wir eine Lösung der institutionellen Fragen in allen Sektoren. Es geht nicht, einzelne Bereiche einfach auszusparen.

Hat die Schweiz das denn vor?
Das wissen wir noch nicht. Es gibt, wie gesagt, weiterhin Unklarheiten. Es gab bisher vier Sitzungen und wir haben alle Themen diskutiert, aber noch keine abschliessenden Antworten bekommen.

Es waren ursprünglich vier Gesprächsrunden zwischen Frau Leu und den EU-Vertretern in Brüssel geplant. Folgt nun eine fünfte?
Ja, Mitte Oktober. Wir führen die Diskussion fort.

Ist das nicht Spiegelfechterei? Beide Seiten wissen, was die andere Seite will.
Wir werden die Schweiz zu nichts zwingen. Aber es ist nicht möglich, weiter am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen und dabei die Regeln nur selektiv zu respektieren. Wir wollen die aktuelle Form der bilateralen Verträge ohne institutionelle Lösung nicht mehr so weiterführen. Es heisst immer, die EU bestrafe die Schweiz und sei böse. Das ist sie nicht. Wir fordern das seit 15 Jahren. Und die Folgen einer fehlenden Einigung, nämlich die Erosion der bilateralen Verträge, wurden immer wieder deutlich kommuniziert.

Der Bundesrat hatte ursprünglich auf Ende Juni einen Bericht zur Europapolitik angekündigt. Bisher haben wir von diesem Bericht nichts gehört. Sie?
Nein, wir wissen nichts. Mich erstaunt die Geheimniskrämerei, die ich beim Thema Europa immer wieder verspüre. In meinen Augen sollte die Schweizer Bevölkerung dieses wichtige Thema breit diskutieren können.

Staatssekretärin Livia Leu sagte letzte Woche, die EU verzögere die Gespräche, um Druck aufzusetzen. Was sagen Sie dazu?
Jeder hat das Recht auf seine Meinung. Doch diese Aussage entspricht nicht der Realität. Wir üben keinen Druck aus, haben aber eine klare Haltung. Sie ist seit Jahren bekannt. Das gilt auch für die Folgen einer fehlenden Einigung. Es gibt in der Schweiz bestens informierte Journalisten, Diplomaten und Akademiker – sie alle warnten vor den Konsequenzen, die ein Nein zum Rahmenabkommen haben würde. Auch der Bundesrat muss es gewusst haben.

Das klingt alles nicht sehr optimistisch.
Ich glaube immer noch an eine Lösung. Die Schweiz ist das Land, das am meisten vom europäischen Binnenmarkt profitiert. Die EU profitiert auch von den engen wirtschaftlichen Beziehungen. Aber es braucht gleich lange Spiesse. Ein Schweizer Bürger in Paris, der nach fünf Jahren seine Arbeit verliert, behält seine Aufenthaltsbewilligung und erhält Arbeitslosengeld. Warum soll der Franzose in Zürich nicht die gleichen Rechte haben?

Es gibt hierzulande eben die Furcht vor einer Masseneinwanderung in die Sozialwerke …
Das sind übertriebene Ängste. Schauen Sie sich doch um. Wer kommt denn in die Schweiz? Das sind die dynamischen Arbeitnehmer, gut ausgebildete Fachkräfte. EU-Bürger in der Schweiz zahlen wesentlich mehr in die AHV ein, als sie beziehen. Das sage nicht ich, sondern das Bundesamt für Sozialversicherungen. Ein Drittel des medizinischen Personals in der Schweiz kommt aus der EU, wo es für viel Geld ausgebildet wurde.

Der fürchterliche Krieg gegen die Ukraine relativiert doch die bilateralen Probleme zwischen der Schweiz und der EU. Sollte man in einer solchen Situation miteinander nicht grosszügiger sein?
Der Ukraine-Krieg erinnert uns an unsere gemeinsamen Werte. Die Schweiz und die EU sind Freunde und werden es immer bleiben. Freundschaft ist aber nicht dasselbe wie die Teilnahme am Binnenmarkt der anderen Seite. Da sind die Schweiz und die EU-Mitgliedstaaten auch wirtschaftliche Konkurrenten. Es müssen daher für alle die gleichen Wettbewerbsregeln gelten. Wenn wir dieses Problem lösen, werden unsere schon jetzt guten Beziehungen aufblühen.

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