Schweizer Nachrichtendienst warnt
Russland bekämpft Demokratie von der Schweiz aus

Russland will den Westen spalten und Wahlen beeinflussen. Der Nachrichtendienst des Bundes stellt fest: Moskau greift wahrscheinlich auf Infrastruktur in der Schweiz zurück.
Publiziert: 28.08.2022 um 00:26 Uhr
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Aktualisiert: 28.08.2022 um 08:02 Uhr
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Russischer Autokrat Wladimir Putin: Wahrscheinlich greift Russland für künftige Cyberangriffe auf Server in der Schweiz zurück.
Foto: IMAGO/SNA
Simon Marti

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist auch ein Krieg im Digitalen, ein Cyberkrieg. Und auch auf diesem Schlachtfeld kennt Moskau keine Grenzen. Im Visier haben die Russen nicht zuletzt die Wahlen in jenen Staaten, die der Ukraine zur Seite stehen. Schon länger beschäftigt sich der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) mit der Frage, ob es zu Einflussnahmen und Manipulationen kommt. Dass Russland nun versuchen könnte, die eidgenössischen Wahlen im kommenden Jahr zu beeinflussen, sei eher unwahrscheinlich, schreibt der NDB in einem neuen und vertraulichen Bericht, der SonntagsBlick vorliegt.

Ein Grund zur Entwarnung ist das nicht. Moskau versucht offenbar, mithilfe Schweizer Infrastruktur die demokratischen Prozesse in anderen Staaten zu unterminieren. Wörtlich schreibt der Nachrichtendienst: «Weiter beurteilt es der NDB als wahrscheinlich, dass für zukünftige Cyberangriffe auf andere westliche Wahlen in der Schweiz stehende Server verwendet werden.» Dies untergrabe die Souveränität der Schweiz, folgert der NDB.

Mit dem Krieg in der Ukraine verschlechterten sich nicht nur die Beziehungen zwischen den westlichen Staaten und Russland, sondern auch Russlands Möglichkeiten, über offene politische oder wirtschaftliche Mittel westliche Staaten zu beeinflussen. «Deshalb beurteilt es der NDB als sehr wahrscheinlich, dass Russland auch nach der Zäsur, die der Krieg darstellt, darauf setzt, die Politik in den westlichen Staaten durch Beeinflussungsaktivitäten wie Wahlbeeinflussung zu manipulieren. Dafür wird es weiterhin auf eine individuell angepasste Mischung aus Desinformation und Propaganda, Cyberangriffe, instrumentalisierte Personen, Gruppen und Institutionen und wahrscheinlich auch auf neue Mittel setzen.» Eingriffe in Wahlen seien für Russland ein Mittel zur Erreichung des übergeordneten Ziels, die westliche Staatengemeinschaft zu schwächen. Auch wenn diese Einflussnahme einen Wahlausgang nicht verändere, «delegitimiert sie teilweise die demokratische Entscheidungsfindung und damit das liberaldemokratische ‹westliche› Modell». So klingt die Rhetorik des globalen Kräftemessens, das auch vor neutralen Kleinstaaten nicht Halt macht.

Dass dabei auch Schweizer Rechner zum Einsatz kommen, hält Jörg Mäder (47, ZH), Programmierer und Nationalrat der Grünliberalen, für durchaus plausibel. «Ich kann mir vorstellen, dass zum Beispiel über eine Strohfirma Server in der Schweiz angemietet werden können, mit dem Ziel, die Herkunft der Propaganda zu verschleiern.»


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Das System untergraben

Einer, der sich beruflich genau damit beschäftigt, ist Markus Christen (53). Er leitet an der Universität Zürich die Digital Society Initiative und forscht unter anderem über die Ethik von Kommunikationssystemen, künstliche Intelligenz und Cybersecurity. «Wenn wir an Trolle denken, die in den sozialen Medien Stimmung machen, oder an Programme, die solche Einträge automatisch generieren, dann müssen diese Aktionen über eine gewisse Infrastruktur laufen», sagt er. Die Schweiz sei in dieser Hinsicht nicht prädestiniert oder besonders anfällig. Möglicherweise spielten aber rechtliche Unterschiede im Vergleich zur Europäischen Union eine Rolle, dass Server hierzulande in den Fokus rückten. Oder die russischen Dienste konzentrierten vermehrt ihre Aktivitäten in der Schweiz, weil andere europäische Staaten etliche russische Diplomaten ausgewiesen hätten.

Die möglichen Auswirkungen solcher Desinformationskampagnen charakterisiert Markus Christen folgendermassen: «Man wählt nicht plötzlich eine andere Partei. Im Endeffekt führt es eher dazu, dass das Vertrauen in das politische System untergraben wird. Die Menschen wählen nicht anders, aber einige wählen vielleicht gar nicht mehr.»

Moskau operiert auf diesem Feld langfristig. Im Juni publizierte Microsoft eine detaillierte Untersuchung über Russlands Kampf im Netz. Nebst verheerenden Cyberattacken auf Ziele in der Ukraine und der Spionage im grossen Stil sei die Beeinflussung von Menschen in aller Welt integraler Bestandteil der Strategie, mit dem Ziel, die Einheit des Westens zu untergraben. Microsoft zeigt sich besorgt darüber, dass viele aktuelle russische Cyberbeeinflussungs-Operationen monatelang unentdeckt bleiben oder schlicht gar nicht an die Öffentlichkeit gelangen.

Angriffe auf Baerbock

Für den Schweizer Nachrichtendienst ist derweil erwiesen, dass Russland bereits 2021 in Deutschland versuchte, die Wahlresultate mit medialer Stimmungsmache und Cyberangriffen zu seinen Gunsten zu manipulieren. Propaganda-Netzwerke hätten insbesondere die heutige Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ins Visier genommen. Daneben wurde versucht, in die E-Mail-Konten von Politikern und Parteien einzudringen. Die Angreifer stünden in Verbindung mit dem russischen Militärnachrichtendienst GRU, wie der NDB in seinem Bericht festhält.

Künftige Ziele nennt er in seinem Rapport nicht mit Namen. «Der NDB beurteilt, dass insbesondere Staaten mit mittlerem bis grossem europa- bzw. weltpolitischem Einfluss, einem anfälligen Wahlsystem (tendenziell eher Majorzwahlen) sowie einer Kandidatenliste, die hinsichtlich für Russland relevanten Geschäften stark polarisiert, opportune Ziele für Russlands Wahlmanipulationen darstellen werden.»

Auch ohne expliziten Hinweis der Analysten richten sich die besorgten Blicke gen Süden: Am 25. September wählt Italien. Die Rechte unter Giorgia Meloni (45) hat gute Aussichten, den Urnengang zu gewinnen. Während die Postfaschistin den westlichen Kurs der noch amtierenden Regierung mitträgt, sind ihre Verbündeten ganz anders aufgestellt. Lega-Chef Matteo Salvini (49) stellt die Sanktionen gegen Russland öffentlich infrage. Und der ewige Silvio Berlusconi (85) bildet sich viel ein auf seine Freundschaft mit dem russischen Autokraten Wladimir Putin (69). Viel steht also auf dem Spiel, wenn sich in einem Monat entscheidet, wer künftig das Nato- und EU-Mitglied Italien regiert.

Cyberkrieg in der Schweiz verhindern

Für etliche Bundesberner Parlamentarier ist der Gedanke unerträglich, dass Moskau via Schweiz auf ebensolche Wahlen Einfluss zu nehmen versucht. «Als neutrales Land muss die Schweiz den Cyberkrieg über ihr Territorium verhindern», sagt SP-Aussenpolitiker Fabian Molina (32, ZH). «Die Behörden müssen alles daransetzen, dass der russische Plan nicht aufgeht.»

Molinas grüner Ratskollege Gerhard Andrey (46) ist Informatik-Unternehmer und Mitglied der parlamentarischen Gruppe IT. «Wir wissen, dass die Schweiz ein attraktives Land ist für klassische Spionage. Das gilt selbstverständlich auch für Operationen im digitalen Raum», sagt der Freiburger. Wie Wissenschaftler Christen denkt Andrey dabei nicht zuletzt an die in der Schweiz akkreditierten Diplomaten aus dem Osten. Laut dem Bund sei es sehr wahrscheinlich, dass russische Agenten direkt aus der Schweiz agierten, so Andrey. «Sie verfügen hier über die notwendige technische Infrastruktur, ohne dass vom Ausland aus auf hiesige Rechner zugegriffen werden muss.» In diesem Zusammenhang müsse man festhalten, dass andere europäische Staaten reihenweise russische Botschaftsmitarbeiter ausgewiesen hätten. «Viele davon scheinen in der Schweiz gelandet zu sein. Bei Verdacht auf Spionage sollte die Schweiz diese Personen auch ausweisen», sagt der Grünen-Nationalrat. Denn wenn die Schweiz zunehmend Ausgangspunkt von Manipulationsversuchen und Cyberattacken werde, leide die Reputation des Landes. Andreys Schlussfolgerung: «Der NDB muss weg von der Überwachung der Bürgerinnen und Bürger und seinen Fokus stattdessen viel stärker auf eine effiziente Spionageabwehr legen.»

Eine Sprecherin des Nachrichtendienstes erklärt auf Anfrage, dass sich der NDB generell nicht zu seinen operationellen Tätigkeiten und Vorgehensweisen äussere. Man könne aber sagen, «dass die Schweiz als Staat in Europa und als Teil der westlichen Wertegemeinschaft Ziel von gegen westliche Gesellschaften gerichteten Beeinflussungsaktivitäten ist, welche die russischen Narrative portieren».

Die Auseinandersetzung hat längst begonnen.

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