Reich oder arm?
Wer am meisten von den wachsenden Erbschaften profitiert

Das Erbvolumen steigt – das liegt vor allem am demografischen Wandel. Aber wie viel Vermögen wird dieses Jahr in der Schweiz vererbt? Und wächst dadurch die Kluft zwischen arm und reich? Blick beantwortet die wichtigsten Fragen.
Publiziert: 09.05.2024 um 00:12 Uhr
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Aktualisiert: 11.05.2024 um 08:37 Uhr
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Wie das Vermögen sind auch Erbschaften und Schenkungen in der Schweiz ungleich verteilt.
Foto: Shutterstock

Die Erben in reichen Familien kriegen nicht nur ein riesiges Vermögen geschenkt, sondern auch jede Menge Aufmerksamkeit. Gerade von Vermögensverwaltern bei Banken, wie ein aktueller Erbschaftsreport des Beratungsunternehmens Ernst & Young (EY) zeigt.

So werden in der Schweiz jährlich Finanzvermögen in Milliarden-Höhe vererbt – Tendenz steigend. Deshalb kämpfen die Finanzhäuser um die vermögenden Erben. Die Finanzvermögen sind jedoch nur ein Teil der riesigen Erbschaften und Schenkungen, welche in der Schweiz jedes Jahr an die nächste Generation gehen. Wie setzt sich das Erbe zusammen? Und inwiefern trägt es zur Ungleichheit bei? Blick liefert die wichtigsten Fakten.

Wie viel wird in der Schweiz 2024 vererbt werden?

18 Milliarden Franken werden gemäss EY dieses Jahr schätzungsweise vererbt. Das ist aber lediglich das Vermögen, welches auf Schweizer Bankkonten liegt. «Dies sind etwa 30 Prozent des Vermögens der Altersklasse der Babyboomer. Das gesamte Erbvolumen schliesst Liegenschaften, nicht kotierte Aktien und weitere Güter ein», erklärt Olaf Toepfer (54), Leiter des EY Global Center for Wealth Management.

Tatsächlich wird also weitaus mehr vermehrt als diese 18 Milliarden Franken an Vermögen. Die Daten hat das Beratungsunternehmen sowohl national als auch international selber erhoben. Zu den Babyboomern gehören die Jahrgänge von 1946 bis 1964.

Zur Einordnung: 2022 wurden in der Schweiz insgesamt 88 Milliarden Franken vererbt oder als Schenkung weitergeben, wie die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in einer Studie schätzt Marius Brülhart (56), Wirtschaftsprofessor an der Universität Lausanne, geht davon aus, dass die Summe inzwischen auf über 90 Milliarden Franken gestiegen ist.

Was wird vererbt?

Von den über 90 Milliarden Franken dürften 25 bis 30 Milliarden auf Schenkungen und 60 bis 65 Milliarden auf Erbschaften entfallen, wie Brülhart schätzt. Von diesen Erbschaften entfallen vermutlich 35 bis 40 Milliarden auf Finanzvermögen – worunter auch die von EY geschätzten 18 Milliarden fallen würden. Zu den vererbten Finanzvermögen zählen auch Anteile an Firmen in Familienbesitz. Die übrigen 25 bis 30 Milliarden machen Immobilien aus.

Zum Vergleich: 1999 schätzte Brülhart das Erbschaftsvolumen inklusive Schenkungen noch auf 36 Milliarden Franken und 1990 auf 20 Milliarden. Das höhere Erbvolumen ist einerseits auf das wachsende Vermögen in der Schweiz zurückzuführen, aber auch auf die demografische Entwicklung. Sterben mehr betagte Menschen, wird häufiger geerbt.

Wer erbt?

Oft geht das Erbe zuerst zur einen Hälfte an den Lebenspartner oder die Lebenspartnerin der verstorbenen Person und zur anderen Hälfte an die Kinder. «Das Vermögen von Frauen in der Altersgruppe der Babyboomer steigt deshalb, bevor die nächste Generation den Besitz erbt», so Toepfer von EY. Das liegt an der höheren Lebenserwartung der Frauen, aber auch daran, dass die Frauen im Schnitt etwas jünger sind als ihre Partner. Gemäss der ZHAW-Studie werden die Frauen über die nächsten zwei Generationen 70 Prozent des globalen Vermögens erben und bis 2030 zwei Drittel des Haushaltsvermögens halten. Auch die Kinder befinden sich beim Erben oft schon im Rentenalter.

Wie ist das Erbe verteilt?

Bei 9 Millionen Einwohnern würden dieses Jahr im Schnitt pro Person in der Schweiz rund 10'000 Franken an Erbschaft anfallen. Doch die Verteilung der Erbsummen widerspiegelt die ungleiche Verteilung der Vermögen: 10 Prozent der Erben in der Schweiz erhalten laut einer ZHAW-Studie rund 75 Prozent des Erbvolumens. Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung erbt gar nichts.

Wie wirkt sich erben auf die Vermögensungleichheit aus?

Stirbt eine Person, werden oft mehrere Erben begünstigt. «In einem ersten Schritt kommt es also zu einer Verwässerung des Vermögens», wie die Ökonomin Isabel Martínez (38) von der ETH Zürich sagt. Sie verweist auf eine Studie aus Schweden, gemäss der die Vermögensungleichheit durch Erbschaften kurzfristig reduziert wird. «Erbt jemand mit geringen Ersparnissen beispielsweise 50'000 Franken, steigt das Vermögen dieser Person signifikant an», erklärt Martínez. Grosse Erbschaften gehen hingegen meist an sowieso schon vermögende Personen.

In der langen Frist kippt das Verhältnis jedoch: «Zehn Jahre nach der Erbschaft haben Menschen mit geringerem Vermögen das gerbte Geld durch Konsum ausgegeben. Bei Reichen ist das Vermögen in dieser Zeit gewachsen», führt Martínez aus. Sie haben das Geld investiert oder Immobilien geerbt, die neben den Mieteinnahmen womöglich im Wert gestiegen sind. Zudem werde die Ungleichheit durch den besseren Zugang zu Bildung und weiteren Vorteilen in reichen Haushalten bereits vorher zementiert.

Wie wird sich das Erbe in Zukunft entwickeln?

EY prognostiziert für die nächsten Jahre den grössten Vermögenstransfer der Geschichte. Das liegt vor allem am demografischen Wandel. Denn im Privatbankengeschäft – also sowohl in der Vermögensverwaltung als auch der Anlageberatung – ist der Durchschnittskunde mittlerweile je nach Bank zwischen 65 und 75 Jahren alt. Deshalb wird in den kommenden Jahren ein deutlich höheres Erbvolumen erwartet. Das liegt auch an der Generation der Babyboomer.

In den kommenden 15 Jahre dürfte das vererbte Vermögen deshalb weiter steigen. Bis 2030 werden gemäss EY weltweit 18 Billionen Dollar, die bei Banken liegen, vererbt werden – das ist in etwa so viel wie das jährliche BIP von China. Toepfer: «Wir sprechen in der Schweiz von einem erwarteten Volumen von 18 bis zu etwa 22 Milliarden pro Jahr bis 2035».

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