Ein 34-jähriger Brite befürchtet, seine «Boomer-Eltern» könnten sein ganzes Erbe auf Luxusreisen verprassen. Und er ist nicht allein. Gemäss einer Umfrage in Grossbritannien erwarten 40 Prozent der befragten 35- bis 50-Jährigen ein Erbe von ihren Eltern. Bei der Blick-Leserschaft schlug das Thema hohe Wellen: Rund 150 Kommentare häufen sich unter dem Artikel, über 22'000 Stimmen wurden bei der Blick-Umfrage abgegeben. Dabei zeigt sich ein einheitliches Bild: Schweizerinnen und Schweizer scheinen empört, wenn Junge einen Anspruch auf den Besitz ihrer Eltern erheben. Die Frage «Sorgst du dich darum, dass deine Eltern dein Erbe verprassen könnten?», beantworteten 97 Prozent mit «Nein, ist schliesslich ihr eigenes Geld».
Mögliche Gründe, warum hierzulande eine tiefere Erwartungshaltung beim Thema Erben vorherrscht, gibt es laut Generationenforscher und Soziologe François Höpflinger mehrere.
Regeln bei Erbschaften
In der Schweiz gibt es im Gegensatz zu Grossbritannien einen Pflichtteil beim Erben für enge Familienmitglieder. Mit diesem sei man hierzulande besser abgesichert, egal, wie die Beziehung zu den Eltern sei, erklärt der Soziologe Blick. Wie und an wen man etwas vererbe, sei in der Schweiz stärker reguliert. «In England oder den USA können Personen mit ihrem Erbe machen, was sie wollen», sagt Höpflinger. So könne beispielsweise das ganze Geld auch an ein Haustier, etwa einen Wellensittich, vermacht werden. In der Schweiz sind Tiere nicht erbberechtigt. Das gerechtere Erbsystem reduziere auch Erbstreitigkeiten. Laut dem Soziologen kommt es nur in etwa 15 Prozent der Fälle zu Streit. In den meisten Fällen spiele sich dieser unter Geschwistern ab.
Historische Erbkultur
«In der englischen Oberschicht galt früher die Erwartungshaltung, dass jede Generation Schloss und Land weitergibt», sagt Höpflinger. Um das Land nicht zu stückeln, wurde es in der Regel an den ersten Sohn vererbt. Die restlichen Geschwister gingen leer aus. In der Schweiz wurden Erbschaften gerechter verteilt. Zudem seien in der britischen Literatur immer wieder Fälle thematisiert worden, in denen Eltern das gesamte Erbe verspielt hatten.
Wirtschaftliche Situation
In der Schweiz ist nicht nur die Lebensqualität dank einem funktionierenden Zusammenspiel von liberaler Wirtschaftsordnung und gut ausgebautem Sozialstaat höher als in Grossbritannien. Auch die verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten verhelfen Jungen zu besseren Aufstiegschancen. Soziologe Höpflinger nennt die Lehre oder die Berufsmaturität als Beispiel. «Wenn Eltern in die Zukunft ihrer Kinder investieren, also mittels guter Schulbildung, hat dies die grösste Wirkung.» Die jüngere Generation erhalte dadurch die Möglichkeit, ihren eigenen Weg zu gehen. Zu einer tiefen Erwartungshaltung trage auch bei, dass hierzulande verhältnismässig spät geerbt werde. Meist erst kurz vor oder nach der Pensionierung. Und das nicht zu knausrig: 2022 wechselten rund 88 Milliarden Franken per Erbschaft den Eigentümer.
Generationengräben vertiefen sich
Dennoch: Auch in der Schweiz hat sich der Generationengraben in den vergangenen Jahren verschärft. Das letzte Generationenbarometer von 2023 zeigte eine überraschende Entwicklung: Über die Hälfte der Generation Z, also der 18- bis 25-Jährigen, ist pessimistischer gegenüber der Zukunft eingestellt und nimmt einen stärkeren Graben zwischen Jung und Alt wahr.
In Europa und der Schweiz herrscht laut Höpflinger eine negative Generationenbilanz vor: Ältere Generationen profitieren stärker – auf Kosten der Jungen. Als Beispiel nennt der Soziologe die 13. AHV, die von den Erwerbstätigen finanziert werden muss. Eine noch grössere Herausforderung für die Generationen sieht er aber in der Wohnungsnot: Viele ältere Personen, die grosse Wohnungen belegen, und junge Familien, die im Umkehrschluss keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Laut Höpflinger gibt es aber Projekte, die dem entgegenwirken. So versuchten etwa Genossenschaften, stärkere Regeln einzuführen. Zum Beispiel, dass Eltern innerhalb der Genossenschaft eine kleinere Wohnung beziehen, sobald die Kinder ausgeflogen sind.
Im Grossen und Ganzen hätten sich die Beziehungen auf Familienebene im Vergleich zu früher aber eher verbessert: «Teenager finden ihre Eltern heute besser als noch vor 20 Jahren.»
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