Ein gemalter Tiger, kräftig, stolz, fauchend – das Bild reicht von der Decke bis zum Boden. Über dem Esstisch hängen zwei rote Laternen, an einer anderen Wand in der Wohnung das Bild eines Kung-Fu-Kämpfers. «Asien und die Kampfkunst haben mich schon als Kind fasziniert», erzählt Marc Müller* dem Beobachter. Es gab eine Zeit, in der er täglich trainierte. Kung-Fu auf hohem Niveau. «Ich war körperlich und geistig topfit.»
Wenn sich Müller an jene Zeit erinnert, werden die Gesichtszüge des hageren Mannes im Kapuzenpulli, mit Brille, Schnauz und Kinnbärtchen weicher. Es war eine der wenigen glücklichen Phasen in seinem Leben. Doch sie liegt weit zurück.
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Heute macht Marc Müller keinen Kampfsport mehr, nur noch leichte Übungen. Er ist gesundheitlich schwer angeschlagen, leidet an der Hautkrankheit Neurodermitis, seine Hände zittern, bisweilen plagen ihn Magenkoliken und Herzrasen. «Ich bin ja an sich eine Kämpfernatur, aber diese Situation setzt mir immer mehr zu.»
Auch seine Psyche leidet stark. Seit einigen Jahren ist der 45-Jährige wegen seiner angeschlagenen Gesundheit IV-Rentner.
Der Grund findet sich in den Aktenordnern, die in seiner Wohnung am Stadtrand von Thun mittlerweile ein Büchergestell füllen. Seit bald zehn Jahren schon nagt ein erbitterter Erbstreit an seinen körperlichen und finanziellen Ressourcen.
Erbschaft wird zur Schuldenfalle
Als sein Vater 2015 starb, erbte Marc Müller von ihm einen Drittel eines Mehrfamilienhauses mit sechs Mietwohnungen und Gewerberäumen in St. Gallen. Geschätzter Wert: über zwei Millionen Franken, plus die Mieteinnahmen. Müller trat damit in eine Erbengemeinschaft ein. Ihr gehörten damals noch die Schwester und der Bruder seines Vaters an.
Es sollte – paradoxerweise – ein schweres Erbe sein. Denn von nun an galt Marc Müller, dessen richtigen Namen wir nicht nennen, bei der Sozialversicherung und den Steuerbehörden als vermögend. Von Gesetzes wegen wird ihm sein Erbe nämlich vom Todeszeitpunkt seines Vaters an angerechnet. Die Folge: Er soll massiv mehr Steuern zahlen. Und sein Anspruch auf die für ihn so wichtigen Ergänzungsleistungen zur IV-Rente erlischt.
Grundsätzlich wäre das alles kein Problem gewesen, wenn ihm sein Anteil am Haus und an den Mieteinnahmen ausbezahlt worden wäre. Doch: «Bis heute habe ich von meinem Erbe keinen roten Rappen gesehen», sagt Marc Müller.
Als «Sozialschmarotzer» beschimpft
Der Grund: Die beiden anderen Parteien der Erbengemeinschaft sperren sich gegen die von ihm gewünschte direkte Auszahlung seines Drittels. So jedenfalls sieht es Marc Müller. Er spricht von Mobbing und Ausgrenzung. Seine Mutter, die beim Gespräch dabei ist, bestätigt seine Wahrnehmung: «Man hat ihn mehrfach als Sozialschmarotzer tituliert.» Der Rest der Erbengemeinschaft wolle ihm diesen Drittel einfach nicht geben: «Dabei steht ihm das doch zu.»
Marc Müller klagte auf Erbteilung. Der Streit kam vor Gericht. Es sei ihm nichts anderes übrig geblieben, meint er. Er müsse ja seine Rechnungen bezahlen.
Am Gericht zog sich der Fall in die Länge – über gut sieben Jahre. Die Parteien wechselten die Anwälte, es gab Anträge, Gegenanträge und Fristerstreckungsgesuche von allen Seiten. Dass die Schwester und der Bruder seines Vaters zwischenzeitlich verstarben und weitere Angehörige als Erben nachrückten, machte die Geschichte nicht einfacher.
Für Marc Müller trägt die Justiz eine Mitschuld an der langen Dauer des Verfahrens: Das zuständige Gericht habe den Fall verschleppt und sich vor einem Entscheid gedrückt. Tatsächlich liegt bis dato immer noch kein Urteil vor. Das Gericht äussert sich auf Anfrage nicht zum konkreten Fall, hält aber fest: Man könne sich gar nicht vor einem Entscheid drücken, man handle stets «im vorgegebenen Rahmen».
In diesem Rahmen hat das Gericht auch zwei Anträge Müllers gegen einen der gegnerischen Anwälte rechtskräftig abgelehnt. Der unterdessen verstorbene Jurist sollte wegen eines mutmasslichen Interessenskonflikts vom Verfahren ausgeschlossen werden. Er war ein Cousin Müllers, gehörte also zur Familie, zudem war er Mieter in der umstrittenen Liegenschaft und dazu auch noch verantwortlich für deren Buchhaltung.
Drogenhorror in der Kindheit
Schwierigkeiten ziehen sich wie ein roter Faden durch Müllers Leben. Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte er in jener Liegenschaft in St. Gallen, um die sich die Erben nun streiten. Sein Vater betrieb dort im Erdgeschoss eine Offsetdruckerei. Seine Eltern hatten mit massiven Drogenproblemen zu kämpfen. Der kleine Marc wurde Zeuge von Elend und Verwahrlosung: «Ich befürchtete zeitweise, meine Eltern würden sterben. Ein Horror.»
Eines Tages beschloss die Mutter, einen Schlussstrich zu ziehen, die Scheidung einzureichen und St. Gallen zu verlassen. Sie zog mit dem Sohn in eine sozialtherapeutische Wohngemeinschaft für Suchtkranke im Kanton Bern. Eines Tages – es war ein Schock für die ganze Familie – starb seine Tante, die Zwillingsschwester seiner Mutter. Auch sie war drogenkrank. «Am Ende war sie nur noch Haut und Knochen», erinnert sich Marc Müller.
Für seine Mutter war es ein Weckruf. Sie kämpfte und schaffte den Ausstieg aus der Sucht. «Ich bin stolz auf sie, dass ihr das gelungen ist.» Sie fand auch einen Job – als Haushälterin im Landhaus eines adligen Paares. Reiche Herrschaften. Doch diese hätten ihr nur ein kleines Salär bezahlt, und die Arbeitstage seien lang gewesen.
Die Lehre – «eine Notlösung»
Nach der Schule absolvierte Müller eine Malerlehre. Flachmaler. «Eine absolute Notlösung. Null kreativ, denn meistens streicht man ja weiss.» Doch die Umstände erforderten es, dass er möglichst schnell Geld verdiente.
Er hätte lieber die Kunstgewerbeschule besucht, wollte Journalist werden – «oder Komiker». In seiner Freizeit machte er Musik: «Ich spielte Bass in einer Rockband.» Wenn er das erzählt, kommt wieder Glanz in seine Augen, schimmert Lebensfreude durch.
Doch die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit holten ihn immer wieder ein. Er wurde arbeitslos und ausgesteuert. Und dann, als er sich endlich wieder aufgerappelt, einen neuen Anlauf und eine Ausbildung zum Masseur gestartet hatte, «super drin gewesen» war und so fit wie nie, begann dieser unsägliche Erbstreit.
Selber schuld, sagt die Tante
Nach dem Tod seines Vaters räumte Müller zusammen mit seiner damaligen Partnerin die Räume der Druckerei. Ein gewaltiger Hosenlupf, denn sein Vater hatte tonnenweise Material gehortet. Danach gingen die zermürbenden, jahrelangen Querelen um die Erbverteilung los.
Eine unsägliche Situation. Der Beobachter kontaktiert zwei Mitglieder der heutigen Erbengemeinschaft, eine Tante und einen Onkel von Marc Müller. Der Onkel reagiert nicht auf die Anfrage.
Die Tante ist der Meinung, dass letztlich Marc Müller mit seiner Klage verantwortlich sei, dass die Erbteilung bis dato nicht erfolgen konnte. Die Situation sei auch für sie eine grosse Belastung, und sie hoffe auf eine Lösung. Zurzeit sind eine aussergerichtliche Einigung und ein Verkauf des Hauses das Thema. Marc Müllers Klage bleibt hängig.
«Ferien, Hobbys – das liegt nicht drin»
Der IV-Rentner sitzt derweil auf einem riesigen Schuldenberg – Steuerschulden, EL-Rückzahlungen, Anwaltskosten. Die Steuerbehörden zeigen teils Verständnis für seine Situation, doch die Zahlungsforderungen werden nur aufgeschoben, dann kommen wieder neue Rechnungen und Betreibungsandrohungen.
Damit er halbwegs über die Runden kommt, wird der IV-Rentner zusätzlich vom Sozialdienst seiner Wohngemeinde finanziell unterstützt. Doch er muss seinen Gürtel eng schnallen. «Ferien, Hobbys – das liegt nicht drin.»
Und ohne Zusatzversicherung sind ihm auch keine Therapien möglich, die für ihn wichtig wären – ab und zu eine Massage, zum Beispiel, oder eine Behandlung mit traditioneller chinesischer Medizin gegen seine gesundheitlichen Beschwerden.
Seine Freunde und seine Partnerin haben sich im Lauf der Zeit von ihm abgewandt – manche waren wohl schlicht überfordert. Die Einsamkeit mache ihm am meisten zu schaffen, sagt Marc Müller: «Die soziale Isolation ist neben den Schulden das Schlimmste an meiner Situation.»
Sauna für die Seele
Einzig seine Mutter unterstützt ihn. Selbst finanziell überhaupt nicht auf Rosen gebettet und gesundheitlich angeschlagen, zahlt sie ihm Saunabesuche in einem Hotel am Thunersee. Schwitzen und dann ein Sprung in den kühlen See – für Marc Müller ist das sehr wichtig geworden. «Das hilft mir sehr, einen klaren Kopf zu bewahren.»
Doch lange wird seine Mutter diesen Beitrag nicht mehr leisten können. Sie möchte mittlerweile nur noch eins: «Dieser Streit soll aufhören, damit mein Sohn endlich zur Ruhe kommen kann. Niemand unterstützt ihn, er kriegt immer nur aufs Dach. Das hat er nicht verdient.»
Marc Müller wünscht sich, dass er eines Tages anfangen kann, seine Schulden zurückzuzahlen, und dass es mit seiner Gesundheit aufwärts geht. «Ich möchte mir auch wieder ein soziales Umfeld aufbauen, Kampfkunst betreiben und – wer weiss – vielleicht eines Tages doch noch den Abschluss meiner Ausbildung schaffen.»
* Name geändert