Frau Erdmann, Sie helfen Leuten dabei, die Häuser der Eltern auszuräumen. Wie kamen Sie dazu?
Christina Erdmann: Das fing mit meinen Eltern an. Als sie vor zehn Jahren in eine Seniorenresidenz umziehen wollten, standen sie zusammen mit meiner Schwester und mir vor der Mammutaufgabe, das Haus aufzulösen. Meine Eltern hatten ein Riesenhaus. Sie sind nach dem Krieg aus der damaligen DDR geflüchtet. Und haben gelernt, was es bedeutet, alles zu verlieren und nur mit einem Koffer voller Sachen irgendwo neu anzufangen. Das alles spiegelte sich im Haus wider. Sie hatten vor ihrem Auszug so gut wie nichts aussortiert. Man konnte ihr Leben der letzten 34 Jahre fast lückenlos rekonstruieren.
Wie lief die Räumung ab?
Alle Sachen durchzugehen, war teilweise wirklich anstrengend. Wir haben uns nicht gestritten, waren aber manchmal kurz davor. Es gab zum Beispiel eine lebhafte Diskussion darüber, ob man gebrauchte Plastiksäcke oder das alte Geschenkpapier wirklich mit umziehen muss. Ich sah meine Eltern teils völlig fassungslos und überfordert von der Menge an Dingen, über die sie entscheiden sollten.
Wovon konnten sich Ihre Eltern am schwersten trennen?
Für meine Mutter waren es ihre Bücher. Wir haben gefühlt wochenlang Bücher aussortiert. Meine Eltern haben nach fast jeder grossen Reise einen Bildband gekauft. Meine Mutter konnte sich nur davon trennen, wenn sie uns vorher nochmal von der Reise erzählt hatte.
Und für ihren Vater?
Für ihn war es sein Musikzimmer. Er war ein verhinderter Profimusiker, klassischer Pianist. Das Dachgeschoss mit den Instrumenten war über 34 Jahre lang sein Refugium. Da stand sein Flügel, die Wände waren voll mit Noten, Büchern, CDs, Platten. Es war klar, dass er davon nur einen Bruchteil ins neue Heim mitnehmen konnte. Besonders schwierig war der Moment, als er merkte, dass von den ganzen Sachen selbst die Fachbibliothek der Universität kaum etwas haben wollte. Dabei hatten ihm Bücher und Notenhefte so viel bedeutet. Mein Vater war nicht gut darin, Gefühle zu zeigen. Aber da hat man ihm angesehen, wie er mit der Fassung rang, jedes Mal, wenn er aus diesem Zimmer kam. Das war auch für mich das Schlimmste.
Das werden viele so erleben – zu merken, dass vieles für einen selbst zwar einen unermesslichen Wert hat, draussen aber nicht mal mehr als Ramsch durchgeht.
Absolut. Das nennt man auch den Besitztumseffekt. Viele denken, sie könnten die Wertgegenstände der Eltern noch verkaufen. Dabei hat selbst das perfekt erhaltene Geschirr oder der Perserteppich fast ohne Gebrauchsspuren kaum mehr Wert. Wir haben in dieser Gesellschaft an vielen Stellen von allem zu viel. Für unsere Eltern waren die Orientteppiche oder das Silberbesteck erstrebenswerte Symbole. Sie zeigten, dass man es geschafft hatte. Die schwierigen Zeiten hinter sich gelassen hatte. Und heute kriegt man für das meiste kein Geld mehr. Das Sofa, für das meine Eltern damals ein Vermögen ausgegeben hatten, landete kostenlos beim Brockenhaus, vieles andere auf dem Recyclinghof. Das war bitter.
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Werden Kinder der nächsten Generation bei ihren Eltern etwas anderes finden? Vielleicht, weil sie eher auf postmaterialistische Werte setzen, sich auch gar kein eigenes Haus mehr leisten können?
Das könnte gut sein. Ich glaube tatsächlich, dass die Ideen von Nachhaltigkeit und Minimalismus dafür sorgen könnten, dass man weniger besitzt. Und Objekte gar nicht mehr derart zu Statussymbolen werden. Diese Themen werden wohl eine bestimmte Gruppe mehr ansprechen. Eher junge Leute, vielleicht noch ohne Familie, die viel reisen wollen. Die eventuell an einem Tiny House interessiert sind, als digitale Nomaden arbeiten. Es wird spannend, zu sehen, wie der Nachlass dieser Generation später aussehen wird.
Wie kam es dazu, dass Sie Ihre persönliche Erfahrung zum Business gemacht haben?
Mein Umfeld hat mitgekriegt, wie meine Schwester und ich über Monate hinweg unseren Eltern geholfen haben, das Haus auszuräumen. Danach fragten mich immer wieder Freunde um Rat, die vor einer ähnlichen Aufgabe standen. Und weil meine Tipps offenbar immer wieder gut funktionierten, sagte eine Freundin irgendwann zu mir: Mach doch einen Job daraus! Ich habe sie erst einmal für verrückt erklärt.
Wieso?
Ich dachte nicht, dass das klappen könnte. Aber dann habe ich gemerkt, dass mir meine bisherigen Erfahrungen als Coach und Organisationsentwicklerin zugutekamen. Und dass die Themen im Elternhaus immer wieder dieselben sind – egal, wie die Familienverhältnisse waren und wie das Haus oder die Wohnung der Eltern aussehen. Mir kam dabei die klassische Heldenreise in den Sinn.
Wie man sie zum Beispiel von Geschichten oder Filmen wie «Herr der Ringe» kennt?
Genau. Nur habe ich die zwölf Etappen der Heldenreise hier aufs Ausräumen des Hauses angewandt. Vereinfacht gesagt, geht es um drei Etappen: sortieren, wertschätzen und loslassen.
Wie fängt man an?
Am Anfang muss man die Lähmung hinter sich lassen. Und mit unterschiedlichsten Empfindungen klarkommen – Melancholie, Trauer, aber vielleicht auch Wut und Hilflosigkeit. Viele wissen auch gar nicht, was sie erwartet. Der Zeitpunkt, zu dem sie sich um die Sachen der Eltern kümmern müssen, tritt ja oft plötzlich ein.
Und dann?
Viele berichten, dass sie nicht gewusst hätten, wo sie anfangen sollten. Es kann sich übergriffig anfühlen, in die privaten Bereiche der Eltern vorzudringen. Die meisten Leute, mit denen ich zu tun hatte, hatten Angst, falsche Entscheidungen zu treffen. Wie weiss ich, ob ich das Geschirr weggeben darf, das 30 Jahre lang jeden Sonntag auf unserem Tisch stand? Und ob ich meine Entscheidung in zwei Wochen nicht bereue?
Wie geht man mit diesen Gefühlen um?
Machen Sie sich am besten zuerst klar, was Sie für diesen Ort empfinden, welche Erinnerungen Sie mit ihm verbinden. Und dann empfehle ich, in Kategorien vorzugehen. Also nicht einzelne Zimmer zu räumen, sondern mit etwas anzufangen, das zu verabschieden, nicht so wehtut. Zum Beispiel alte Zeitungen oder nicht mehr nutzbare Kunststoffschüsseln. Danach vielleicht Handtücher oder andere Wohntextilien. Und sich so Schritt für Schritt durchzuarbeiten.
Bei jedem Schritt lauert die Gefahr, sich mit den Geschwistern in die Haare zu kriegen. Sehen Sie das häufig?
Ich kenne nur wenige Fälle, bei denen es nicht zu Streit kam. Das Haus der Eltern zu räumen, bricht häufig alte Wunden auf. Oder lässt neue überhaupt erst entstehen. Vielleicht fühlte sich ein Geschwister schon immer ungerecht von den Eltern behandelt. Vordergründig geht es beim Hausräumen natürlich um Fragen wie: Wer kriegt was? Ist die Aufteilung gerecht? Aber manchmal wird das Aufteilen oder Entsorgen der Besitztümer auch als letzte Möglichkeit der Wiedergutmachung oder sogar Rache gesehen. Es spielen persönliche Leidensgeschichten mit rein. Im Sinne von: Mutter hat dich schon immer lieber gemocht, jetzt will ich wenigstens ihren Schmuck haben.
Was raten Sie bei Streit?
Ich frage zuerst, wie das Verhältnis aktuell ist. Und ich schlage vor, sich vorab bewusst darauf zu verabreden, sich nicht zu zerstreiten. Sie müssen sich nicht mögen. Aber sich einigen, Kompromisse finden, auch mal zurückstecken. Das ist die hohe Kunst.
Das Beispiel, bei dem es geklappt hat: Wie ist das dort abgelaufen?
Eine Frau erzählte mir, wie sie mit ihren Geschwistern – alle zwischen 50 und 65 – auf dem Teppich im Wohnzimmer der Eltern sass. Und alle einen Riesenspass daran hatten, die Sachen der Eltern vor sich auszubreiten. Sie hin- und herzutauschen und sich Geschichten dazu zu erzählen. Und das, obwohl sie sich eigentlich untereinander gar nicht so gut verstanden. Sie sind im besten Einvernehmen auseinandergegangen.
Wie ist das, wenn die Beziehung zu den Eltern zu Lebzeiten schon zerrüttet war?
Da komme auch ich an meine Grenzen. Ich bin keine Therapeutin. Da braucht es möglicherweise eine professionelle psychologische Begleitung. Es kann ja sein, dass Leute Gewalt oder Missbrauch erlebt haben im Elternhaus. Und dass die betroffene Person als einziger Erbe den Ort wieder betreten muss, den sie seit 20 Jahren gemieden hat. Das kann viel Schlimmes wieder an die Oberfläche bringen. Ich kann es gut nachvollziehen, wenn jemand sagt: Ich beauftrage einen Makler und eine Räumungsfirma, die sich um alles kümmern.
Sie haben mittlerweile etliche Leute dabei begleitet, die Elternhäuser auszuräumen. Was waren die überraschendsten Funde?
Ein Mann hat mir erzählt, er habe beim Ausräumen unfassbar viel Unterwäsche der Mutter gefunden. Und sich gefragt, wieso sie die hatte und wann sie diese getragen habe. In einem anderen Haus war in jeder Ritze des Hauses Geld versteckt: in jedem Buch, in jeder Dose, in den alten Zeitungen. Die Kinder mussten jedes einzelne Stück durchgehen. Bei einem weiteren Beispiel erzählten mir die Kinder von einem Tresor mit Wertgegenständen, den sie nicht öffnen konnten. Der Schlüssel war zu gut versteckt. Das sind alles Sachen, bei denen man nicht weiss, ob man aus Verzweiflung lachen oder vor Wut auf die Eltern weinen soll.