Als die Millionenerbin das Nobelhotel Europe an der Zürcher Dufourstrasse betritt, ist der Zweite Weltkrieg erst seit drei Jahren vorbei. Die 25-Jährige erblickt im Ausstellungsraum des Hotels ein dunkelblaues Porsche-Cabriolet. Eine Weltneuheit! Die muss sie haben. Während Europa noch in Trümmern liegt, wird Jolantha Tschudi die erste Porsche-Besitzerin der Welt.
Was bisher niemand so genau wusste: Woher hatte die junge Zürcherin so viel Geld? Denn Jolantha Tschudi war nicht einfach nur reich, sie war superreich. In der Stadt Zürich gab es bloss 18 Personen, die vermögender waren als sie. Das haben die zwei Historiker Matthieu Leimgruber und Geoffrey Legentilhomme herausgefunden.
In ihrer noch unveröffentlichten Studie «Der goldene Schleier» nehmen sie die Reichsten Zürichs unter die Lupe. Die Arbeit ist Teil des Forschungsschwerpunkts Chancengleichheit der Universität Zürich. Eine der zentralen Fragen: Warum sind die Superreichen so reich?
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Die Abstammung zählt
Für die Schweiz lautet die Antwort: «Die überwiegende Mehrheit der Superreichen sind Erben.» So steht es in einer zweiten Studie zum Thema, die «Einblicke in die Schweizer Reichenliste» heisst. Darin schreiben die Autoren: «Als gebürtige Schweizerin oder gebürtiger Schweizer scheint eine Erbschaft die wichtigste Voraussetzung zu sein, um an die Spitze der Vermögensverteilung zu gelangen.»
Ganz oben spielt Leistung demnach eine untergeordnete Rolle. Was zählt, ist primär die Abstammung. Das zeigt die Analyse von Isabel Martínez und Enea Baselgia von der ETH Zürich und der Universität St. Gallen. Die beiden Ökonomen haben die Reichenlisten der Zeitschrift «Bilanz» von 1989 bis 2020 umfassend ausgewertet.
Dass unter den Reichsten der Schweiz so viele Erben sind und so wenige Selfmade-Milliardäre, sagt etwas über das Land aus. «An der Spitze der Vermögenspyramide funktioniert die Meritokratie nicht», sagt Isabel Martínez. Das bedeutet: Leistung und Verdienst reichen nicht aus, um ganz nach oben zu kommen. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit versagt.
Gemäss der aktuellen «Bilanz»-Liste der 300 Reichsten im Land gibt es 63 Milliardärinnen und Milliardäre mit Geburtsort Schweiz. Nur jeder Vierte von ihnen hat seinen Reichtum selbst geschaffen. Guillaume Pousaz etwa, der Gründer des Bezahldienstes Checkout.com, ist so ein Selfmade-Milliardär, er gilt als reichster Unternehmer der Schweiz. Oder Peter Spuhler mit seiner Stadler-Rail.
In den USA sind Bildung und Talent gefragt
In den USA ist das anders, dort dominieren Tellerwäscherkarrieren wie jene von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oder Amazon-Gründer Jeff Bezos. Von den 400 Reichsten der USA haben über zwei Drittel ihr Vermögen selbst erwirtschaftet.
In der Schweiz ist dieser Anteil nicht mal halb so gross, wenn man nur die Milliardäre mit Schweizer Wurzeln zählt. In den Vereinigten Staaten seien der Zugang zu Bildung in jungen Jahren und der Einsatz des eigenen Talents entscheidender für Superreichtum als ein Erbe, schreiben die Autoren.
In der Schweiz hingegen überwiegen Familienclans auf der Reichenliste. Der mit Abstand reichste Clan mit Schweizer Wurzeln ist jener der Familien Hoffmann, Oeri und Duschmalé. Sein Vermögen von aktuell rund 30 Milliarden Franken fusst auf dem Vermächtnis von Fritz Hoffmann-La Roche, der die heutige Firma Roche im Jahr 1896 gegründet hat. Sein Verdienst vor über 100 Jahren macht heute den Ur-Ur-Urenkel Jörg Duschmalé zu einem reichen Mann. Er vertritt die Familieninteressen im Verwaltungsrat des Pharmariesen.
«Die Roche-Erben sitzen im Verwaltungsrat, weil sie Erben sind, nicht wegen ihres Könnens», sagt Ökonomin Martínez. Natürlich würden viele Milliardenerben hart arbeiten. «Doch ihre Jobs wurden nie ausgeschrieben.»
Das gilt auch für eine andere Milliardärin, die Tochter von Christoph Blocher: «Magdalena Martullo-Blocher wurde Chefin der Ems-Chemie, weil sie die Tochter ist. Nicht weil sie in einem Bewerbungsverfahren die Beste war.» Das sei völlig legitim. Solche Entscheide fielen unter die Wirtschaftsfreiheit des Unternehmens, sagt Martínez.
Aber man wisse schlicht nicht, ob das Unternehmen wegen Martullo-Blocher so erfolgreich sei, oder weil ihr Vater es richtig aufgestellt habe vor der Übergabe. «Vielleicht würde jemand anderes das Unternehmen viel besser führen. Deshalb können wir hier nicht von einer Selfmade-Milliardärin sprechen.»
Die Datenanalyse der zwei Ökonomen bringt eine weitere Erkenntnis: «Wer es einmal an die Spitze geschafft hat, bleibt wahrscheinlich auch dort.» Die Absturzgefahr für Superreiche hat sich gemäss Studie seit dem Jahr 2000 verringert.
Die Historiker Leimgruber und Legentilhomme kamen zu einem erstaunlich ähnlichen Resultat, als sie die Vermögenssituation der reichsten Zürcher zwischen 1890 und 1952 erforschten.
In ihrer Studie rekonstruieren sie anhand des städtischen Steuerregisters, wie die 0,1 Prozent Reichsten ihr Vermögen durch zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise gebracht haben. Fazit: Unter dem «goldenen Schleier» gab es erstaunlich wenig Bewegung. «Reichtum ist klebrig», sagt Geschichtsprofessor Matthieu Leimgruber.
Zwar gab es in den 60 untersuchten Jahren Aufstiege, Abstiege und Neuankömmlinge im Klub der 40 Reichsten von Zürich. Doch das alte Geld dominierte. 1952 waren über die Hälfte der Superreichen bereits seit einem halben Jahrhundert superreich. Zum Beispiel die Porsche-Käuferin Jolantha Tschudi, die mit ihrem handgefertigten Sportwagen über Schweizer Pässe brauste, um ihrem Hobby nachzugehen, dem Segelfliegen.
Ihr Grossvater mütterlicherseits war Fritz Meyer, Generaldirektor der Zürich-Versicherung. Ihr Grossvater väterlicherseits war Peter Tschudi-Freuler. Der Textilindustrielle aus dem glarnerischen Schwanden verkaufte seine Fabriken und sass stattdessen bei der Credit Suisse, der Zürich und den Eternit-Werken im Verwaltungsrat. Vater und Mutter von Jolantha Tschudi starben früh, weshalb die junge Frau mit eigenem Namen im Steuerregister auftaucht.
Firmengründung dank gutem Riecher und viel Geld
Jolantha Tschudi profitierte davon, dass ihre Familie 1790 eine Rotfärberei für Textilien gegründet hatte. Das war sieben Generationen vor ihr, wie dem Buch «Die Unternehmerfamilie Tschudi» zu entnehmen ist. Ihr Vater, Jacques Tschudi, hatte zudem Glück – oder einfach auch einen guten Riecher. Er erkannte als 39-jähriger Millionärssprössling die neue Boombranche seiner Zeit: Autos.
Im Jahr 1928 wurde er Generalimporteur von Chrysler-Automobilen und legte dafür laut Handelsregister 200’000 Franken auf den Tisch. Das wären heute 1,4 Millionen Franken. Kurz darauf gründete er die Autoimportfirma Amag, die er später wieder verkaufte.
Erbin Jolantha Tschudi war Mitte des letzten Jahrhunderts aus zwei Gründen eine typische Vertreterin von Zürichs Reichsten. Erstens: Nur gerade 9 Prozent von ihnen waren damals Selfmade-Millionäre. In 90 Prozent der Fälle war ihnen das Vermögen quasi in die Wiege gelegt worden. Für echte Newcomer sei es wohl sehr schwer gewesen, die «goldene Decke» zu durchbrechen, schreiben die Historiker.
Zweitens: Textil-Erbinnen wie Jolantha Tschudi gab es viele. Im Club der 40 Reichsten von Zürich waren um 1900 rund 80 Prozent Textilindustrielle. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg besass die Mehrheit der Zürcher Superreichen Anteile von anderen Branchen wie Maschinenindustrie, Banken, Versicherungen oder Handel. Am Ursprung der riesigen Zürcher Familienvermögen standen oft Seidenfabrikanten.
Reich blieben die Superreichen über all die Jahrzehnte auch, weil die Politik sie verschonte. «Die in vielen anderen europäischen Ländern zu beobachtende ‹grosse Nivellierung› des Vermögens hat in der Schweiz nicht stattgefunden», schreiben die Autoren. Das stehe im Gegensatz zur Entwicklung in anderen Städten.
Im schwedischen Stockholm beispielsweise hat zwischen 1935 und 1950 eine starke Angleichung der Vermögen stattgefunden. Die Reichsten wurden ärmer. Die Ungleichheit nahm ab. «Die Schweiz hat ihre Reichen nie in dem Ausmass mit Steuern belastet wie Schweden», sagt Professor Leimgruber. «Deshalb sieht man in der Schweiz die finanzielle Macht der alteingesessenen Patrizierfamilien noch so lange in den Steuerdaten.»
Leimgrubers und Legentilhommes Untersuchungszeitraum endet 1952. Die Brücke zur Gegenwart schlagen sie in ihrer Studie gleichwohl. Die Hälfte aller Zürcher Millionäre, die 1989 auf der «Bilanz»-Liste erschienen seien, tauchte bereits in ihren alten Steuerakten als Superreiche auf, schreiben die beiden Historiker. Die Zürcher Familien Bodmer, Syz oder Abegg beispielsweise waren vor über 100 Jahren reich und sind es heute noch. «Das unterstreicht die Langlebigkeit grosser Vermögen in der Schweiz.»