Bei Novartis werden für gewöhnlich nach genausten Berechnungen chemische Substanzen zu hochkomplexen Medikamenten gemischt – aber für einmal muss eine simple Milchbüchleinrechnung herhalten: Der Pharmagigant streicht in der Schweiz 1400 Jobs. Wenn jeder der Entlassenen einen Jahreslohn von 200'000 Franken nach Hause bringt – in der Branche durchaus realistisch –, spart der Basler Konzern 280 Millionen Franken.
Novartis will zu den konkreten Einsparungen durch den Stellenabbau keine Angaben machen. Die Gewerkschaften jedenfalls bezeichnen die Massenentlassung als «sinnlos», das zugehörige Konsultationsverfahren als «Alibi-Übung». Blick hat Novartis-Schweiz-Chef Matthias Leuenberger (57) zum Interview über den Stellenabbau und die Zukunft des Pharmastandorts Schweiz getroffen.
Blick: Herr Leuenberger, unsere Leserinnen interessieren sich wohl am meisten für den anstehenden Stellenabbau bei Novartis.
Matthias Leuenberger: Eigentlich müssten sich die Leute doch am stärksten für unseren Aktienkurs interessieren und dafür, wie es der Firma insgesamt geht!
Die meisten Blick-Leser sind wohl keine Novartis-Aktionäre.
Doch! Viele sind es über die Pensionskasse, ohne es zu wissen.
Gut, dann sprechen wir eben über den Aktienkurs. Novartis hat in den letzten fünf Jahren 10 Prozent an Börsenwert verloren. Konkurrentin Roche hat in der gleichen Zeit mehr als 20 Prozent gewonnen. Was ist da los?
Der Vergleich mit Roche ist nicht ganz fair. 2019 zum Beispiel haben wir Alcon abgespalten und an die Börse gebracht. Unsere Aktionäre haben zusätzliche Alcon-Aktien erhalten. Bereinigt um diesen Faktor hat unser Aktienkurs in den letzten fünf Jahren über zwei Prozent zugelegt.
Aktienkurs hin oder her, Novartis baut weltweit 8000 Stellen ab, in der Schweiz sind es 1400. Das entspricht mehr als jedem zehnten Job. Es scheint also nicht alles im Lot zu sein.
Der Stellenabbau hängt mit der Zusammenlegung unserer beiden Geschäftsbereiche Onkologie und Innovative Medicines zusammen. Da gibt es natürlich Redundanzen.
Die ganze Wirtschaft ächzt unter dem Fachkräftemangel. Novartis stellt derweil Mitarbeitende auf die Strasse. Wie geht das zusammen?
In der Produktion und der Forschung sind wir tatsächlich auch vom Fachkräftemangel betroffen. Aber nicht im Management.
Arbeitsmarktexperten prognostizieren, dass ausgerechnet Führungskräfte Mühe bei der Stellensuche haben werden. Hierarchien werden flacher, es braucht weniger Leute, die «nur» Chef sind. Stattdessen sind Fachexperten gesucht. Kommen die ehemaligen Novartis-Manager unter die Räder?
Nein! Wir haben einen sehr grosszügigen Sozialplan. Die Mehrheit der Betroffenen ist in diesen Wochen bereits informiert worden. Die Kündigung sprechen wir aber erst in vier Monaten aus. Und dann kommt noch mal eine sechsmonatige Kündigungsfrist obendrauf. Die ersten werden das Unternehmen also im nächsten Sommer verlassen.
Und dann?
Wir haben diesbezüglich Erfahrung aus einer früheren Reorganisation: 2018 haben wir den Abbau von 2150 Stellen angekündigt und in den Folgejahren vollzogen. Damals haben rund 80 Prozent eine Anschlusslösung gefunden. Unsere Leute sind top ausgebildet, ihr Fachwissen ist à jour. Viele sind Expats, die können sich auf der ganzen Welt eine neue Stelle suchen. Und der Fachkräftemangel spielt ihnen in die Karten. Ich will jetzt keine Namen nennen, aber unsere Konkurrenz wirbt uns immer wieder Mitarbeitende ab.
Wenn sich jetzt massenhaft Expats neue Jobs im Ausland suchen, bedeutet das nichts Gutes für den Standort Schweiz. Sollte uns das nicht beunruhigen?
Viele werden hier bleiben. Immerhin haben wir in Basel den bedeutendsten Pharmastandort auf dem ganzen europäischen Kontinent. Aber es stimmt schon, die Konkurrenz ist hart. In der Forschung konkurrieren wir etwa mit den USA, Grossbritannien und Israel. Mit dem Ausschluss aus dem EU-Forschungsprogramm Horizon gerät die Schweiz ins Hintertreffen. Wir sind in der Forschung sozusagen nicht mehr Teil der Champions League. Und wenn es um die Produktion geht, ist die Schweiz sowieso schon längst nicht mehr so attraktiv wie früher.
Novartis beliefert heute vom Produktionsstandort in Stein AG ganz Europa mit Medikamenten. Wollen Sie sagen, das hat keine Zukunft?
Je stärker die bilateralen Verträge mit der EU erodieren, desto schwieriger wird es. Heute stellt Swissmedic sicher, dass wir unsere Medikamente korrekt produzieren. Die ganze EU akzeptiert diese Freigabe. Wenn wir dereinst den barrierefreien Zugang zum EU-Markt verlieren, wie das in der Medtech-Branche schon passiert ist, müssen EU-Inspektoren in Stein vorbeikommen, um die Fabrik selber unter die Lupe zu nehmen. Das macht den Export teurer. Und den Standort Schweiz für die Pharmaproduktion unattraktiver.
Die Schweiz und die EU führen derzeit «Sondierungsgespräche». Grund zur Hoffnung?
Ein Rahmenabkommen 2.0 ist in meinen Augen nicht realistisch. Der Bundesrat hat die Verhandlungen einseitig abgebrochen. Das hat bei der EU nicht gerade für Goodwill gesorgt. Ich bin konsterniert. Es herrscht Stillstand. Und weil in einem Jahr Wahlen sind in der Schweiz, wird sich bis dann wohl auch nichts bewegen. Jetzt herrscht auch noch Krieg in Europa, und es droht eine Energiemangellage. Diese Themen stehen bei der EU-Kommission auf der Prioritätenliste viel weiter oben als die Schweiz.
Eine Energiemangellage würde auch Novartis treffen. Wo sparen Sie Energie?
Beim Gas gehören wir nicht zu den grossen Verbrauchern. Beim Strom muss man zwischen Produktion, Labor und Büro unterscheiden. Auf unserem Campus in Basel können wir bei einer Zuspitzung der Krise durch eine vorübergehende Schliessung aller Bürogebäude und andere Massnahmen zwischen 10 und 15 Prozent Strom einsparen. Es wäre einschneidend, aber könnte so umgesetzt werden. Bei der Produktion in Stein und in unseren Laborgebäuden ist es schwierig: Sparmassnahmen sind dort eine Herkulesaufgabe.
Rechnen Sie damit, dass Ihnen der Bund dort den Saft abdreht?
Nein. Die Produktion von Medikamenten ist systemrelevant. Wir versorgen damit nicht nur die Schweiz, sondern die ganze Welt. Wir exportieren in 200 Länder und tragen damit eine enorme Verantwortung. Ein Produktionsunterbruch ginge zulasten der Patienten – und wäre obendrein ein Reputationsschaden sondergleichen für die Schweiz. Daher rechnen wir auch nicht mit Kontingentierungen.
Das klingt etwas gar entspannt. Immerhin verbraucht die Pharmabranche 5,5 Terawattstunden Strom pro Jahr – das sind 9 Prozent des schweizweiten Verbrauchs!
Die Pharmabranche ist aber auch der grösste Exporteur im Land. Wir exportieren jedes Jahr Waren im Wert von 100 Milliarden Franken. Pro Einheit, die wir produzieren, brauchen wir nicht überdurchschnittlich viel Strom. Aber klar, auch wir müssen bei einer Zuspitzung der Krise unseren Verbrauch weiter reduzieren.
Apropos Exporte: Als eine der wenigen Branchen exportieren Sie weiterhin nach Russland. Pharmafirmen sind von den Sanktionen ausgenommen. Sind Sie in Ihrer Arbeit trotzdem eingeschränkt?
Wir haben Investitionen und Werbeaktivitäten in Russland gestoppt. Auch pausieren wir mit der Einleitung neuer Studien. Wir haben uns aber verpflichtet, den Zugang zu unseren Medikamenten in Russland zu gewährleisten, denn anders als etwa Kaffee und Käse sind Medikamente unverzichtbar. Sie werden nicht für Regimes hergestellt, sondern für Menschen.
Zurück in die Schweiz. Im kommenden Jahr steigen die Krankenkassenprämien im Schnitt um 6,6 Prozent. Kritiker, darunter Public Eye, monieren, dass dies auch mit den hohen Medikamentenpreisen zusammenhänge. Sind Sie mitschuldig an der Kostenexplosion?
Medikamente machen zwölf Prozent der Ausgaben im Gesundheitswesen aus. Dieser Wert ist in den letzten sieben Jahren konstant geblieben. Bei den Generika sehen wir sogar, wie der Preisdruck dazu führt, dass Hersteller aus Kostengründen nicht mehr in Europa produzieren. Das führt am Ende im schlimmsten Fall zu Lieferengpässen. Es kann doch nicht sein, dass eine Tablette Ibuprofen 7 Rappen kostet und ein Kräuterbonbon 16 Rappen! Kommt hinzu, dass wir die Preise nicht selber festlegen. Das macht das Bundesamt für Gesundheit.