Stell dir vor, du selbst, deine Schwester oder dein Kind wurden gequält, geprügelt, vergewaltigt und dabei auch noch gefilmt. Stell dir des Weiteren vor, diese Vergewaltigung werde für alle zugänglich auf die grösste Pornoseite der Welt geladen, so, dass sich Krethi und Plethi sexuell an ihrem Schmerz ergötzen können. Oder stell dir vor, deine Tochter wird im Alter von 13 von einem älteren Jungen genötigt, Nacktfilmchen von sich zu schicken. Später wird sie in der Schule ausgelacht: Alle haben sie auf Pornhub gesehen. Tun kannst du dagegen nichts, der Polizei sind die Hände gebunden. Weil: Internet.
Dieses Szenario ist kein Albtraum, sondern, wie die Netflix-Dok «Money Shot» zeigt, für diverse Menschen – meist junge Frauen oder sogar Kinder – Realität. Sie landeten ohne ihr Einverständnis auf Pornhub, der grössten Pornoseite der Welt. Besitzer ist Mindgeek (Blick berichtete über die Hintergründe der Firma), eine kanadische Tech-Firma, die jährlich 450 Millionen Dollar Umsatz macht und diverse andere Pornoseiten besitzt. Allein Pornhub soll 1,5 Milliarden US-Dollar wert sein.
Männer verdienen an Frauen
An den Quälvideos und an anderen Inhalten verdienen sich vier Männer eine goldene Nase: Mindgeek gehört gemäss Wikipedia dem Syrer-Kanadier Feras Antoon (47), David Marmorstein Tassillo, Leonardo DaSilva und der Investor Bernd Bergmair (geschätztes Vermögen: 1–2 Milliarden). Sie reagieren auf verzweifelte Anfragen Geschädigter zur Löschung von Vergewaltigungs- und Quälvideos jahrelang zunächst gar nicht, und später erst nach monatelanger Verzögerung. Aktivistinnen forderten zwischenzeitlich die Abschaltung von Pornhub. Erst als multiple Gerichtsverfahren hängig werden, löscht Mindgeek im Dezember 2020 sämtliche Videos, die nicht von verifizierten Darstellern hochgeladen wurden – 80 Prozent des ganzen Contents.
Die Netflix-Dokumentation gibt nicht nur Geschädigten und Ex-Mitarbeitern eine Stimme. Auch Pornodarsteller kommen zu Wort, die ihre Inhalte freiwillig auf die Seite laden und so Geld verdienen – und sowohl das Löschen von Videos und somit den Verlust von Vielfalt und deshalb den Verlust von Streams und deshalb natürlich den Verlust von Geld beklagen. Die Dokumentation hinterlässt so einen seltsam richtungslosen Eindruck: Regisseurin Suzanne Hillinger scheint das Leid der Opfer mit dem von freiwilligen Pornodarstellern gleichzusetzen, die jetzt weniger Geld verdienen – das sie aber wohl problemlos auf Onlyfans wieder hereinspielen können.
Warum lassen wir das zu?
Damit wirkt die Dokumentation nicht nur ethisch richtungslos – vielmehr verpasst sie es, die bei dieser Thematik eigentlich wichtigste Frage zu stellen: Das Durchschnittsalter, in dem Kinder zum ersten Mal mit Pornografie in Berührung kommen, liegt gemäss einer Studie aus dem Jahr 2017 bei zwölf Jahren. Und die Chance ist gross, dass sie dies auf Pornhub tun. Und dort wiederum ist die Chance gross, dass sie – auch nach der Löschung vieler Inhalte – auf brutalste frauenfeindliche Inhalte stossen, in denen Frauen geschlagen und gequält werden, und in denen Mädchen routinemässig als Schlampen und Bitches dehumanisiert werden.
Die Frage ist deshalb eigentlich nicht, dass einige vereinzelte Pornodarstellerinnen und -darsteller bemängeln, dass sie Erwerbsausfälle haben, sondern warum unsere Gesellschaft zulässt, dass die eine Hälfte davon für alle frei zugänglich die andere Hälfte ihrer Würde beraubt.