Mitarbeiter in Sorge um Telemed-Patienten
Hier entscheiden Laien, wer ein Notfall ist

Ein mehrjähriger Medgate-Mitarbeiter kritisiert die fehlende medizinische Ausbildung der Angestellten. Kommt hinzu, dass KI-Lösungen und Apps zunehmend menschliche Arbeit ersetzen. Ein Problem für die Gesundheitsversorgung bei Medgate? Was das Unternehmen dazu sagt.
Publiziert: 28.01.2025 um 00:16 Uhr
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Aktualisiert: 28.01.2025 um 07:22 Uhr
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Medgate ermöglicht Patienten den telemedizinischen Zugang zu Beratung und Behandlung durch zahlreiche verbundene Ärztinnen und Ärzte.
Foto: keystone-sda.ch

Auf einen Blick

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Jean-Claude RaemyRedaktor Wirtschaft

Für Fritz S.* (62) ist das Mass voll. Seit mehreren Jahren arbeitet er beim Telemedizin-Pionier Medgate am Patientenempfang – also da, wo Personen für eine medizinische Beratung oder bei einem Notfall anrufen. Weil er noch ein paar Jahre bis zum Ruhestand hat, möchte er anonym bleiben. Die Sorge um die Patientinnen und Patienten sei aber so gross, dass er sich an die Öffentlichkeit wendet. «Bei uns leidet die Dienstleistungsqualität», klagt S., «und das schon seit einigen Jahren.»

Interessant: Laut S. hat heute keiner mehr eine medizinische Ausbildung am Patientenempfang, wie sie etwa medizinische Praxisassistenten (MPA) haben. «Ich selbst habe auch etwas anderes gelernt», gibt S. an. Für den Job reiche heute ein «Interesse an medizinischen Fragestellungen» – so steht es auch in Jobausschreibungen des Unternehmens. Vor noch nicht allzu langer Zeit sei das anders gewesen. «Die MPA sind im Sog der Übernahme durch die Otto Gruppe entlassen oder nicht gleichwertig ersetzt worden», sagt S., «vermutlich sind MPA zu teuer gewesen.»

Zur Erinnerung: Medgate wurde 2022 durch den deutschen Detailhandelsriesen Otto Group übernommen. Seitdem hätten sich die Arbeitsbedingungen sehr verschlechtert. «Das Ziel der Otto Group ist klar: mehr Umsatz und weniger Personalkosten», sagt S.

Viel Verantwortung für wenig Lohn

Er befürchtet, dass nun all dies ernsthafte Konsequenzen für die Patienten haben könnte. Eine medizinische Ausbildung wäre ihm zufolge von Vorteil bei den immer häufiger vorkommenden Dringlichkeitsprüfungen. «Sobald keine telefonischen Termine mit Ärzten mehr verfügbar sind für den Tag, müssen wir am Telefonempfang entscheiden, wie dringend das medizinische Anliegen ist.» Seine Angst: Dass Anrufer nicht alle Symptome nennen und er sie deshalb auf spätere Arzttermine vertröstet, während eine sofortige Hilfe wichtig gewesen wäre. Eine Checkliste, nach der er vorgehen muss, ersetze medizinisches Verständnis nicht.

Gleichzeitig wächst die Arbeitslast. Medgate ist nicht nur im Dienst von diversen Schweizer Krankenkassen, sondern betreibt auch Notfalllinien für mehrere Spitäler und Arztpraxen. Dazu S.: «Wir werden ständig überrannt und kommen an unsere Grenzen.» Die Gehälter in seinem Bereich sind nicht unbedingt eine Motivationsspritze. S. bekommt ein Grundgehalt (100-Prozent-Pensum) von lediglich 4100 Franken. Wer zusätzlich Italienisch, Englisch oder Französisch spricht, erhält zusätzlich 200 Franken Sprachzulage. S.: «Eine Teuerungs- oder Lohnanpassung gab es schon lange nicht mehr».

Keine Entlastung empfindet S. durch die im September 2024 eingeführte KI-Software namens «Sofia», die viele Aufgaben der Call Agents übernehmen soll. Noch müsse man zu oft die Patienten bitten, über die App zu gehen. Er nennt ein Beispiel: «Wir selbst können Rezepte nicht mehr versenden, falls der Patient diese plötzlich an eine andere Apotheke versendet haben will, oder wir können keine Listen mit gemeldeten Leistungserbringern mehr mailen.»

Telemedizinische Versorgung wird von Versicherten immer häufiger gewählt, weil damit Prämien gespart werden können. Laut einer repräsentativen Umfrage der Krankenkasse Atupri nutzen über 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung bereits telemedizinische Angebote.

Die KI ersetzt den Menschen noch nicht

Und was sagt Medgate zu den Vorwürfen? «Wir machen seit 25 Jahren Telemedizin. Die Prozesse gibt es in dieser Form seit 15 Jahren. Sie haben sich bewährt», heisst es in einem Statement einer Medgate-Sprecherin. Die Mitarbeitenden im Patientenempfang hätten jederzeit einen Arzt oder eine Ärztin als Ansprechperson, wenn sie Unsicherheiten bei der medizinischen Dringlichkeit eines Anrufenden haben. Zudem hätten alle Call Agents medizinische Schulungen durchlaufen. Dennoch liege die medizinische Verantwortung letztlich «beim ärztlichen Betrieb und nicht im Patientenempfang».

Zusammenhänge zwischen der Qualität und der Übernahme durch die Otto Gruppe bestreitet die Medgate-Sprecherin. Sie räumt aber ein, dass der Job anspruchsvoll ist, auch weil infolge Ärztemangel die Nachfrage in der Telemedizin enorm sei. Kommt hinzu, dass die Einführung der «Sofia»-Software nicht reibungsfrei verlaufen sei.

Aktuell werden bei Medgate 70 Prozent der telemedizinischen Arzttermine telefonisch vereinbart und 30 Prozent über die App. Für administrative Entlastung sei KI im Einsatz – aber nicht für Beratung. Die Call Agents müssten sich keine Sorge machen, dass die App oder KI Call Agents ersetzen – und damit den menschlichen Faktor, der Empathie beinhaltet, verloren geht. Medgate: «KI kann heute noch nicht, was ein Mensch kann.»

* Name geändert 


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