Kritik am Schweiz-Anstrich von China-App
Temu wächst stark in der Schweiz – der Ärger wächst mit

Die chinesische Shopping-App hat ihre Nutzungsbedingungen eingeschweizert. Schweizer E-Commerce-Kenner üben daran Kritik – und fordern gleichlange Spiesse.
Publiziert: 27.11.2024 um 11:48 Uhr
|
Aktualisiert: 30.11.2024 um 11:28 Uhr
1/5
Neue Schweizer Nutzungsbedingungen bei Temu schüren Ärger.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

Die Zusammenfassung von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast.
andreas_guntert.jpg
Andreas Güntert
Handelszeitung

Wer sich auf Temu tummelt, interessiert sich in der Regel vor allem für tiefe Preise, neue Produkte und all die Gewinnspiele, die auf der chinesischen Shopping-App ständig laufen. Eher wenig Interesse dürfte dabei den Nutzungsbedingungen zuteilwerden. In einem Text-Tatzelwurm von über 6500 Wörtern werden die Verbindlichkeiten zwischen Temu und Schweizer Konsumenten und Konsumentinnen geregelt. Da muss man schon sehr genau hinschauen, um wichtige Punkte zu erkennen.

Einer, der genau hinschaut, ist Bernhard Egger. Der Geschäftsführer von Handelsverband.swiss sagt: «Uns ist aufgefallen, dass Temu kürzlich die Schweizer Nutzungsbedingungen geändert hat.» Dabei gebe sich das Unternehmen, das seit längerer Zeit auch die Schweizer Bezahl-App Twint akzeptiert, auf den ersten Blick plötzlich sehr viel schweizerischer. Doch ein Kontrollblick zeige, dass das eigentlich bloss ein «Swiss-Washing» sei.

«Temu nimmt sich aus der Verantwortung»

Was Egger und anderen Schweizer E-Commerce-Profis ins Auge sticht: Beim Passus 17.3 der Rechtswahl galt zuvor für Konsumenten und Konsumentinnen in Ländern ausserhalb der EU das irische Recht. Neu heisst es wörtlich: «Wenn Sie in der Schweiz ansässig sind, gilt Schweizer Recht.» Egger sagt: «Diese Neuerung begrüssen wir grundsätzlich. Doch in der Realität zeigt sich, dass sich Temu damit bloss einen Swissness-Anstrich geben will.» Ein wichtiger anderer Passus laufe weiterhin stark gegen die Interessen von Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten.»

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

Worauf der E-Commerce-Shopping-Profi hinauswill: Passus 9.1 der Temu-Nutzungsbedingungen heisst unverändert so: «Wir haften nicht für Ansprüche oder Streitigkeiten, die zwischen Nutzern von Temu entstehen können. Wenn es auf Temu zu einer Streitigkeit zwischen Ihnen und einem anderen Nutzer oder einem Dritten kommt, sind wir nicht verpflichtet, uns einzuschalten.» Für Egger ist das der springende Punkt: «Mit diesem Haftungsausschluss nimmt sich Temu klar aus der Verantwortung heraus. Was bedeutet, dass das Unternehmen jegliche Produktehaftung auf den Inverkehrsbringer abschiebt, in diesem Fall den Schweizer Konsumenten.»

Kampf für gleich lange Spiesse

Gemäss Egger wäre es normal, dass ein Händler der Inverkehrsbringer ist: «Wenn Temu damit seine Rolle als Plattform betont und mit diesem Passus auf seine unzähligen Produzenten verweist, ist das für Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten eine fast unlösbare Aufgabe, weil sie den Hauptkontakt mit Temu haben, aber nicht mit den Lieferanten, die man meist nicht finden kann.» Temu nehme sich so «komplett aus der Verantwortung, was gegenüber den Kunden unfair ist.»

Dieser jüngste Vorfall passt zu einer Reihe von Äusserungen und Vorstössen in der Schweizer E-Commerce-Szene: Etablierte Händler wie Roland Brack ärgern sich darüber, dass im Konkurrenzkampf mit Temu nicht «gleich lange Spiesse» gelten; die Swiss Retail Federation wurde in Sachen Temu schon im Frühling 2024 beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) vorstellig.

Im aktuellen Fall der Temu-Nutzungsbedingungen erhält Egger Sukkurs von Anne-Christine Fornage, Professorin für Privatrecht und Konsumentenrecht an der Universität Lausanne und Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Konsumentenfragen (EKK): «Temu behauptet, lediglich ein Vermittler zu sein, der nicht Vertragspartei ist.» Diese Strategie sei bereits von Uber verwendet worden, um sich Verpflichtungen gegenüber Fahrern zu entziehen, indem argumentiert wurde, dass diese keine Angestellten, sondern Selbstständige seien. Das Bundesgericht entschied jedoch 2022 gegenteilig. Im vorliegenden Fall, so Fornage, «wird erneut die reine Vermittlungsrolle betont, um eine Haftung gegenüber dem Verbraucher zu vermeiden.»

«Kundendienst-Team jederzeit erreichbar»

Warum hat die chinesische Shopping-App überhaupt ihre Schweizer Nutzungsbedingungen geändert? Vielleicht deshalb, weil Temu von verschiedenen Schweizer Organisationen stark unter Druck gesetzt wird? Nein, sagt ein Temu-Unternehmenssprecher: Die Klausel 17.3 sei eingeschweizert worden, «um unsere Nutzungsbedingungen an die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz anzupassen.» Warum jedoch weiterhin ein Haftungsausschuss gilt, erklärt Temu nicht im Detail, sondern rechtfertigt sich pauschal so: «Wir unterstützen unsere Kunden aktiv bei der Abwicklung von Reklamationen oder Streitigkeiten mit Verkäufern und sorgen dafür, dass sie in solchen Situationen nicht alleine dastehen.» Das Kundendienst-Team sei jederzeit über die Website und die App erreichbar, um die Kommunikation zwischen Kundinnen und Verkäufern zu erleichtern und Probleme effizient und fair zu lösen.

Das mag so sein. Aber wenn es rechtlich hart auf hart geht, sagt Klausel 9.1 weiterhin, dass Temu nicht für die Ansprüche oder Streitigkeiten haftet, die zwischen Nutzern und Nutzerinnen von Temu entstehen können, und nicht verpflichtet ist, sich bei Streitigkeiten einzuschalten.

Warum dieser matchentscheidende Abschnitt mit den neuen Nutzungsbedingungen im jüngsten Update von Mitte Oktober nicht kundenfreundlicher formuliert wurde, will Temu nicht sagen. Nur so viel: «Wir überarbeiten und verbessern die Formulierungen unserer Nutzungsbedingungen ständig und freuen uns über Rückmeldungen unserer Nutzer, um sie so klar und benutzerfreundlich wie möglich zu gestalten.»

Temus Schweizer Umsatz 2024 auf über 700 Millionen Franken geschätzt

Das Hickhack um die neuen Nutzungsbedingungen von Temu mag arglosen E-Commerce-Konsumenten und -Konsumentinnen als Wortklauberei erscheinen, aber in diesem Text-Sermon wird letztlich geregelt, wer welche Rechte und Pflichten hat.

Wie sehr die neue Auslegeordnung die Schweizer Konsumenten und Konsumentinnen stört, ist nicht erforscht. Was klarer ist: Die chinesische Plattform, die erst seit Frühling 2023 in der Schweiz verfügbar ist, schreibt weiterhin Rekordzahlen. Die Winterthurer E-Commerce-Beratungsfirma Carpathia schätzt Temus Schweizer Umsatz im Rumpfjahr 2023 auf 350 Millionen Franken. Im aktuellen Jahr aber, so Carpathia, sehe man die chinesische Shopping-App bereits bei «über 700 Millionen Franken». Damit würde Temu im zweiten Jahr seiner Schweizer Aktivitäten in der Liste der grössten Schweizer Web-Shops einen Sprung von Rang neun auf Rang sechs machen und dabei auch einen etablierten Schweizer Onlinehändler wie Brack.ch überrunden.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?
Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.