Wer kürzlich im Restaurant war, dürfte sich über die neuen Preise gewundert haben, auch der Einkauf beim Detailhändler hat sich deutlich verteuert. Und jetzt noch der Mietzinsschock, in den nächsten Wochen dürften in viele Briefkästen happige Mietaufschläge flattern. Nicht zu vergessen der Prämienanstieg, der im kommenden Jahr erneut bei der Grundversicherung droht.
Bei all den Preisanstiegen, bleibt von Lohnerhöhungen der vergangenen Jahre nicht mehr viel übrig.
Schlimmer noch, vielen Angestellten bleibt real weniger Geld im Portemonnaie, ihre Kaufkraft sinkt. Das bleibt für die Wirtschaft nicht ohne Folgen.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hat nachgerechnet und zeichnet gestützt auf den Lohnindex des Bundesamtes für Statistik (BfS) ein düsteres Bild: In vielen Branchen sind die Reallöhne gesunken, liegen teilweise auf dem gleichen Niveau wie vor zehn Jahren.
Bau und Konsum leiden
Besonders hart trifft es die Angestellten im Bereich Verkehr und Lagerlogistik sowie Mitarbeitende von Post-, Kurier- und Expressdiensten (siehe Grafik). In diesen Branchen liegt der Reallohn deutlich tiefer als noch 2016. Auch über alle Branchen gerechnet ist der Reallohn – und damit die Kaufkraft – gesunken. Immerhin: Es gab auch ein paar Jahre, als real etwas mehr Geld in der Lohntüte blieb.
Gemessen am mittleren Lohn in der Schweiz von rund 6600 Franken beträgt der Reallohnverlust inzwischen rund 2000 Franken pro Jahr, sagen die Gewerkschaften. «Das ist für den einzelnen recht viel Geld», erklärt Daniel Lampart (54), Chefökonom des SGB. «Langfristig könnte die Nachfrage im Inland sinken, im Konsum und im Bau werden wir das deutlich spüren.»
Die Anzeichen, dass sich die Befürchtungen der Gewerkschaften bewahrheiten könnten, mehren sich. Der Baumeisterverband rechnet «in den nächsten ein bis zwei Jahren wird mit einer etwas geringeren Bautätigkeit als in den Vorjahren». Dies unter anderem wegen der gestiegenen Zinsen und Baukosten.
Lohn, Preise und Konsum
Reallöhne sinken weiter
Auch beim Konsum, blinken bereits die Alarmsignale: Im Detailhandel sind die Umsätze im April gesunken, die wichtige Konjunkturstütze Konsum wird abgebremst.
«Der private Konsum wird weniger stark wachsen, aber nicht einbrechen», sagt Michael Siegenthaler (38) Arbeitsmarktexperte der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF). Denn noch kann die Zuwanderung den Kaufkraftverlust wieder wettmachen.
Allerdings dürften die Reallöhne in der Schweiz weiter sinken. Das sagen nicht nur die Gewerkschaften, das gibt es sozusagen amtlich. Eben hat das BfS eine erste Schätzung zur Lohnentwicklung in diesem Jahr veröffentlicht. Zwar werden die Löhne nominal um 1,8 Prozent steigen. Doch bei einer erwarteten Teuerung von 2,5 Prozent resultiert unterm Strich ein Reallohnverlust. So wie schon in den beiden Vorjahren.
Es braucht mehr Lohn
Das müssen selbst die Arbeitgeber eingestehen. «Die Lohnrunde für das Jahr 2023 war substanziell, auch wenn der Reallohn wegen der Teuerung vorübergehend negativ ist», sagt Simon Wey (47), Chefökonom beim Arbeitgeberverband. Und relativiert: «Anders im Ausland, da gibt es teils grosse Kaufkraftverluste.»
Nur, die schwindende Kaufkraft beginnt nun auch in der Schweiz viele zu schmerzen. Das Rezept der Gewerkschaften dagegen ist klar: «Alle Angestellten brauchen einen Teuerungsausgleich und etwas obendrauf», fordert Lampart für den Lohnherbst 2023. «In Zeiten von Inflation braucht es allgemeine Lohnerhöhungen. Bei individuellen Lohnerhöhungen kommen viele zu kurz.»
Das hat auch damit zu tun, dass wir gewöhnt sind, in Nominallöhnen zu denken. Uns also nach einer langen, inflationsfreien Zeit erst wieder an die Teuerung gewöhnen müssen: «Der Mittelstandschweizer merkt gar nicht so schnell, dass er weniger Geld im Portemonnaie hat», meint Siegenthaler von KOF. Das Resultat: «Viele Angestellte fordern bei den Lohnverhandlungen zu wenig.»
Erst steigen die Kosten, dann die Löhne
Die Arbeitgeber dämpfen allerdings schon mal die Erwartungen: «Der Lohn ist nur ein Kriterium für einen attraktiven Arbeitgeber. Für Arbeitnehmende immer wichtiger sind die besseren Arbeitsbedingungen, etwa die Möglichkeit für Teilzeit oder Homeoffice oder mehr Ferien», erklärt Wey. Und widerspricht den Gewerkschaften, die wegen gestiegener Margen viel Spielraum für Lohnerhöhungen sehen. «Das stimmt nur, wenn die Firmen auch die Preise an die Teuerung anpassen können. Die meisten haben durch die Teuerung zuerst einmal höhere eigene Kosten», so der Chefökonom des Arbeitgeberverbandes. «Es ist noch völlig offen, wie der Lohnherbst aussehen wird.»
Was bei den Lohnverhandlungen 2023 drin liegt, darüber wird auch die konjunkturelle Lage entscheiden. Immerhin: Im Gegensatz zu einigen Nachbarländern droht in der Schweiz keine Rezession, die Wirtschaft ist ganz passabel ins Jahr gestartet. Aber auch Siegenthaler warnt vor übertriebenen Erwartungen: «Um sämtliche Reallohnverluste der letzten Jahre auszugleichen, müssten die vertraglich vereinbarten Löhne in einem historischen Ausmass wachsen.»