In wenigen Wochen steht die Schweiz vor der Abstimmung des Jahres: Rund 2,3 Millionen Genossenschaftsmitglieder entscheiden darüber, ob in der Migros künftig Alkohol verkauft werden soll. Anfang Mai erhalten sie ihre Wahlunterlagen, bis zum 4. Juni können sie ihre Stimme abgeben. Legen mindestens zwei Drittel ein Ja ein, gibt es in Supermärkten, Restaurants und Take-aways der Migros ab 2023 Bier, Wein und Spirituosen.
Es wäre das Ende einer fast 100-jährigen Tradition – und je nach Ausgang der Abstimmung denkbar, dass in manchen Regionen Alkohol in die Migros-Regale kommt und in anderen nicht.
Gruppe für die M-Werte
Nun meldet sich in der Debatte eine gewichtige Stimme zu Wort, wie Recherchen von SonntagsBlick zeigen: Herbert Bolliger (68), von 2005 bis 2017 Migros-Chef, ist Teil einer neu gegründeten Vereinigung, die sich Gruppe für die M-Werte nennt und für die Beibehaltung des Alkoholverbots kämpfen will. Auf Anfrage begründet Bolliger sein Engagement so: «Durch den Verkauf von Alkohol werden die Migros-Werte geschwächt. Die Migros würde ein Stück ihrer Einzigartigkeit verlieren. Darauf wollen wir hinweisen.»
Wer sonst noch beteiligt ist, will Bolliger nicht verraten. Man sei daran, eine «bescheidene, aber effektive Kampagne» zu konzipieren. Inserate und eine Website seien derzeit in Bearbeitung.
«Es ist nicht an mir, über die Meinung anderer zu urteilen»
Fabrice Zumbrunnen (52), seit 2018 an der Migros-Spitze, äussert sich zurückhaltend über den plötzlichen Unruhestand seines Vorgängers: «Es ist nicht an mir, über die Meinung anderer zu urteilen», sagte er diese Woche am Rande der Bilanzmedienkonferenz zu SonntagsBlick.
Es gehöre zum demokratischen Prozess, dass es unterschiedliche Meinungen gebe. Die aktuelle Migros-Führung habe lediglich die Aufgabe, eine offene Debatte zu ermöglichen. Zumbrunnen: «Das haben wir von Anfang an getan und das tun wir auch jetzt. Auf unserer Website zum Beispiel werden sämtliche Argumente aufgelistet, die für oder gegen ein Alkoholverbot sprechen.»
Tatsächlich präsentiert die Migros im Internet genau gleich viele Argumente für und gegen eine Abschaffung des selbst auferlegten Alkoholverbots. Fakt ist aber auch, dass die Mehrheit der Migros-Gremien in Zukunft gerne Alkohol anbieten möchte. Die zehn Regionalgenossenschaften haben sich mehrheitlich für den Alkoholverkauf ausgesprochen, vergangene Woche machte die «NZZ am Sonntag» publik, dass sich mittlerweile auch der Verwaltungsrat der Genossenschaftsbundes auf ein Ja festgelegt hat.
Der Wille Duttweilers
Wichtiges Argument für eine Aufhebung des Verbots ist die Tatsache, dass die Migros in ihrem Onlinesupermarkt, bei Denner und Migrolino bereits heute Alkohol verkauft. Die Befürworter halten es daher für wenig glaubwürdig, dass die Traditionalisten das Alkohol-Embargo als «Alleinstellungsmerkmal» darstellen und sich dabei auf den Willen des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler berufen, der das Verbot 1928 eingeführt hatte.
Nicht ganz unschuldig an diesem Dilemma ist Herbert Bolliger. Der Aargauer fädelte 2007 den Kauf von Denner ein – und verlieh dem Alkohol im Hause Migros damit mehr Gewicht. Bolliger sieht darin jedoch keinen Widerspruch. Er weist darauf hin, das Geschäft mit dem Alkohol sei schon lange vor der Denner-Übernahme in die Migros-Gruppe geholt worden – und zwar mit dem Kauf von Globus 1997. «Zudem wurde auch nach der Globus- und Denner-Übernahme in den Migros-Filialen kein Alkohol verkauft. Und das ist auch gut so.»
Bolliger beruft sich ebenfalls auf Gottlieb Duttweiler, dem die Volksgesundheit ein wichtiges Anliegen gewesen sei. «Auch heute investiert die Migros gezielt im Gesundheitsbereich und bietet eine Fülle gesunder Produkte an. Alkohol wäre deshalb eine Kehrtwende auf diesem Gesundheitspfad der Migros.»
Glaubensstreit wird für Marketingkampagne verwendet
Der Alkohol-Entscheid stellt die Migros vor eine Zerreissprobe. Die Konzernleitung versucht mittlerweile, aus dem Glaubensstreit eine Marketingkampagne zu machen. So wurden bei einer Brauerei gleich zwei Biere in Auftrag gegeben, die je nach Ausgang der Abstimmung ins Sortiment aufgenommen werden. Bei einem Ja kommt das «Oui»-Bier mit Alkohol, bei einem Nein das alkoholfreie «Non».
Eine süffige Idee. Sollte es aber tatsächlich dazu kommen, dass künftig in einer Zürcher Migros-Filiale Alkohol verkauft wird und in einer Berner nicht, könnte der Marketing-Gag nach hinten losgegangen sein...