Nicht einmal 3500 Franken monatlich verdient ein ungelernter Gastromitarbeiter im Minimum. So schreibt es der Gesamtarbeitsvertrag vor. Viel zu wenig, monieren die Gewerkschaften schon lange. Die anziehende Teuerung verleiht ihren Forderungen nach Lohnerhöhungen nun neuen Aufwind.
Der Gewerkschaftsbund (SGB) forderte am Mittwoch deshalb Lohnerhöhungen für alle. In einigen Branchen ist es laut Gewerkschaftern aber besonders dringend – unter anderen eben in der Gastronomie. «Es herrscht Personalmangel», argumentiert Christian Capacoel, Sprecher der Gewerkschaft Unia. Der massive Fachkräftemangel im Gastgewerbe hat sich in der Pandemie noch zugespitzt. «Mit höheren Löhnen hätten die Gastronomen die Chance, etwas gegen das Tieflohn-Image der Branche zu tun.»
Konkret fordert die Unia im Gastgewerbe einen Teuerungsausgleich sowie zusätzlich 70 Franken mehr Lohn pro Monat. «Die Arbeitgeber in der Gastronomie waren in den letzten Jahren knausrig», kritisiert Capacoel.
Beizer verstecken sich hinter Corona
Beim Branchenverband Gastrosuisse kommen diese deutlichen Worte schlecht an. Zu den konkreten Lohnforderungen könne man sich nicht äussern, heisst es auf Anfrage von Blick. Schliesslich liefen derzeit die Verhandlungen über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag. Allgemein hält der Verband fest: «Viele gastgewerbliche Betriebe leiden nach wie vor sehr unter den vergangenen zwei Corona-Jahren.»
Die Branche brauche aber trotz Fachkräftemangel keine Image-Politur, findet der Verband. Sie sei attraktiv genug, auch dank innovativer Konzepte. «Mittlerweile bieten einige Betriebe beispielsweise eine Vier-Tage-Woche mit regulär drei freien Wochentagen an.»
Büezer mit «höchsten Löhnen weltweit»
Neben dem Gastgewerbe zeigt die Unia mit dem Finger auf die Baubranche, keine klassische Tieflohnbranche. «Aber die letzten beiden Jahre verweigerten die Baumeister generelle Lohnerhöhungen», kritisiert Capacoel. «Die Auftragsbücher sind voll, das Bauvolumen nimmt zu. Aber die Arbeit wird von immer weniger Leuten erledigt.» Für die Arbeitgeber stiegen dadurch die Margen, für die Bauarbeiter hingegen der Druck – und das Unfallrisiko.
Genau wie im Gastgewerbe laufen auch bei den Bauarbeitern aktuell Verhandlungen über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag. Die Gewerkschaft fordert einen Teuerungsausgleich und zusätzlich ein Prozent mehr Lohn – im Schnitt 180 Franken mehr pro Monat. «Das Geld wäre da, auf dem Bau», findet Capacoel.
Allerdings stiegen derzeit auch die Baumaterialpreise, hält der Baumeisterverband dagegen. Das schmälert die Margen. Und sowieso: Die Bauarbeiterlöhne in der Schweiz gehörten zu den höchsten weltweit. Wichtiger als «Lohnrunden mit der Giesskanne» seien individuelle Lohnanreize, so der Verband.
Kommt hinzu, dass die Mindestlöhne im Baugewerbe in den letzten Jahren mehrfach erhöht wurden – obwohl die Inflation damals nahe null Prozent oder gar darunter lag. «Die Kaufkraft der Bauarbeiter hat deshalb in den vergangenen Jahren zugelegt», hält der Baumeisterverband fest.
Beim Chef vorsprechen oder nicht?
Neben dem Gastgewerbe und dem Bau sähen die Gewerkschaften besonders bei Lieferdiensten gerne höhere Löhne. Wer mit dem Auto oder dem Töff ausliefert, spürt die gestiegenen Benzinpreise besonders schmerzlich. In der Logistikbranche stehen allerdings keine Verhandlungen über den GAV an. Die Angestellten müssen ganz normal auf den Lohnherbst warten, wenn die Gewerkschaften traditionell ihre Lohnforderungen stellen.
Oder sie sprechen selber beim Chef vor. Empfehlenswert ist das aber nicht immer. «Man sollte sich zuerst an die Gewerkschaft richten und sich beraten lassen», empfiehlt Capacoel. Ansonsten geht die Lohnverhandlung möglicherweise nach hinten los.
Darauf deutet auch die Haltung des Arbeitgeberverbandes hin. Generelle Lohnerhöhungen seien nicht realistisch, schreibt der Verband. Ausserdem sei die Konjunkturlage wieder fragil. «So haben die Lockdowns in der Wirtschaftsmetropole Shanghai zu starken Einschränkungen der Logistik mit Lieferengpässen geführt. Weitere Risiken bilden steigende Zinsen, der Ukraine-Krieg und eine Rückkehr der Corona-Pandemie.» Wer beim Chef wegen mehr Lohn vorspricht, droht aufzulaufen – Teuerung hin oder her.