Die SBB sind in Not. Es fehlt an Personal. Bis zum Fahrplanwechsel im Dezember fallen 200 Züge aus – täglich. Weil es keine Lokführer gibt, die sie steuern. Und jene im Führerstand, die noch im Einsatz sind, arbeiten an ihrer Belastungsgrenze.
Das Lokführerproblem ist hausgemacht. Lange hat die Staatsbahn zu wenig Personal für den Führerstand ausgebildet. Der grösste Mangel herrscht in der Westschweiz, im Raum Genf. Die zweite Problemzone: Aarau–Olten. Fernreisende und Berufspendler müssen mit längeren Reisezeiten rechnen. Zuweilen verkehren Ersatzbusse. Krasses Beispiel aus dem Aargau: Die Bahnstrecke von Lenzburg nach Zofingen ist bis im Dezember komplett auf Busbetrieb umgestellt.
Die Lage ist prekär, die Auswüchse sind bizarr: Bähnler und Gewerkschafter berichten unabhängig voneinander, dass Taxis zum Einsatz kommen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Und vor allem, damit die Verspätungen nicht noch mehr zunehmen.
Laut den Insidern werden Lokführer mitten in der Nacht zu ihrem Zug kutschiert – koste es, was es wolle. So ist die Rede von Taxifahrten von Chur GR nach Zürich, von Delémont JU nach Bern, von Sion VS nach Lausanne VD.
Oder die längste berichtete Strecke: von Brig VS nach Genf, das ganze Rhonetal runter, dem Genfersee entlang – über 200 Kilometer. Die Fahrt im Taxi dauert gut zweieinhalb Stunden. Die Rechnung dafür ist happig: 750 Franken. «Die SBB nehmen solche Kosten und Umstände in Einzelfällen in Kauf, damit es nicht zu Zugausfällen kommt», sagt ein SBB-Sprecher dazu.
Schamgefühl beim Management
Seit April ist Vincent Ducrot (58) neuer SBB-CEO. Er entschuldigte sich öffentlich für die fehlenden Lokführer. «Ich schäme mich, dass es so weit kommen musste», sagte er vor ein paar Wochen, als er die Halbjahreszahlen präsentierte. Und dabei Fehlplanungen zugeben musste, die in die Amtszeit seines Vorgängers Andreas Meyer (59) fallen.
Ducrot erklärt den Lokführer-Notstand zur Chefsache. Er sucht nun das Gespräch mit der Basis. BLICK weiss von einem Lokführer, der die SBB verlässt und künftig für die BLS fährt. Er wurde zum Einzelgespräch mit dem SBB-CEO aufgeboten.
Es ist nicht das erste Gespräch, das der SBB-Chef mit den einfachen Angestellten führt. BLICK weiss von weiteren Lokführern, die sich mit Ducrot ausgetauscht haben. Der Freiburger ist sichtlich bemüht um offene Worte. Er verschanzt sich nicht im Berner Hauptsitz, umgibt sich nicht mit einem Heer teurer Berater, sondern geht auf Tuchfühlung mit der Basis. Von Bähnler zu Bähnler. Das kommt gut an.
Auch Gewerkschaften applaudieren. «Ducrot fühlt den Puls bei den Direktbetroffenen», sagt SEV-Gewerkschaftssekretär Jürg Hurni (58).
«Unanständig tiefe Löhne»
Das Problem mit dem Lokführermangel hat Ducrot angepackt. Die Ausbildungsklassen sind voll, zusätzliche Kapazitäten werden geschaffen. Ein weiteres Problem kann Ducrot nicht ausradieren: den Lohn. «Ein langjähriger Lokführer der SBB verdient heute praktisch gleich viel wie vor 15 Jahren», moniert die Gewerkschaft der Lokführer. «Dies hält keinem internen oder externen Vergleich stand, trotz ausgewiesenen Mehrbelastungen.»
Die Arbeiter im Führerstand, die ihren Namen nicht in den Medien lesen wollen, sprechen gegenüber BLICK von «unanständig tiefen Löhnen», welche die jungen Lokführer erhalten sollen. Der «monetäre Aufstieg» dauere viel zu lange. Das führe zu noch mehr Frustration und schliesslich zur Kündigung – was die Misere weiter verschärft.
«Aktuell ist die angespannte Personalsituation überall spürbar», bestätigt auch ein SBB-Sprecher. Zugemietete Lokführer sorgen nur punktuell für Entlastung. «SBB- und schweizweit fehlen aktuell 210 Lokführer.»
Die SBB bezahlen den Lokführern ein Jahressalär zwischen 70’335 und 102’833 Franken. Dazu kommen Zulagen für unregelmässige Arbeitszeiten und Tagespauschalen für Verpflegungskosten. «Diese betragen üblicherweise mehrere Hundert Franken pro Monat», sagt ein SBB-Sprecher. Ausserdem gibt es, je nach Standort, eine Regionalzulage.
Der Aufstieg in die oberste Lohnstufe dauert aber lange. Laut GAV bis zu 20 Jahre. Einen Automatismus gibt es nicht, die Bahn zahlt individuelle Lohnerhöhungen. «Ein riesiges Problem», so Gewerkschafter Hurni.
Auch das mache einen Wechsel zu einem anderen Anbieter attraktiv. Beliebt sind insbesondere BLS und RhB. BLICK weiss von mehreren Lokführern, die unter anderem wegen des Lohnes zur Konkurrenz gewechselt haben.