Fabriken stehen still, Löhne sinken, Exporte brechen ein
So schlecht stehts um Russlands Wirtschaft

Die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf die russische Wirtschaft sind auf den ersten Blick schwierig zu sehen: Russland versucht diese mit allen Mitteln abzufedern. Experten gehen jedoch davon aus, dass das Land um Jahrzehnte zurückgeworfen wird.
Publiziert: 22.09.2022 um 00:19 Uhr
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Aktualisiert: 22.09.2022 um 10:31 Uhr
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Die russische Wirtschaft wird in den nächsten Monaten und Jahren massiv unter den westlichen Sanktionen leiden.
Foto: AFP
Martin Schmidt

Die Einwohner in der russischen Stadt Tichwin drei Autostunden östlich von St. Petersburg machen sich grosse Sorgen. Die Zukunft der beiden grössten Arbeitgeber im Ort steht auf dem Spiel. Das riesige Güterwagenwerk der russischen Firma United Wagon Company überspannt mehr als 230'000 Quadratmeter und steht seit Monaten still, weil wichtige Fahrzeugteile aus dem Ausland nicht mehr geliefert werden. 7000 Angestellte fürchten um ihre Jobs. Auch der schwedische Möbelriese Ikea hat in Tichwin jahrelang eine grosse Möbelfabrik betrieben, die er nun verkaufen will. Lokale Medien berichten, dass Ikea bereits 500 Leute und damit die Hälfte der Belegschaft entlassen hat. Ikea bestätigt den Personalabbau gegenüber Blick.

Wegen des Stillstands in den beiden Fabriken sind auch viele Zulieferfirmen in der Region mit mehreren Tausend Arbeitsplätzen ohne Arbeit. Ilia Matweew (33), Wissenschaftler am Soziologie-Labor in St. Petersburg, sieht auf die Region harte Zeiten zukommen. «Wenn die beiden Fabriken nicht wieder öffnen können, wird Tichwin zur Geisterstadt», so der Autor einer Analyse der ETH Zürich über den Zustand der russischen Wirtschaft.

Löhne werden deutlich sinken

Gemäss mehreren nichtstaatlichen russischen Medien nehmen in der Region mit der steigenden Arbeitslosigkeit bereits die Kriminalität und Alkoholprobleme zu. «Ich glaube, die Regierung wird versuchen, eine Lösung für solche Gebiete zu finden – zum Beispiel die Übernahme dieser Firmen durch die Chinesen oder sonst jemanden. Eine gewisse Abwanderung kann trotzdem stattfinden», sagt der Ökonom und Russland-Experte Vasili Astrow (47) zu Blick. Er arbeitet für das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche.

Doch auch wenn viele Russinnen und Russen ihren Job behalten können, müssen sie den Gürtel künftig deutlich enger schnallen. «In Russland war es immer so, dass in Krisenzeiten vor allem die Reallöhne und -gehälter sinken und nicht die Beschäftigung», sagt Astrow. Bereits heute sind viele Angestellte in Kurzarbeit und erhalten nur noch einen Bruchteil ihrer Löhne.

Die ETH-Analyse zeigt, dass Russland wirtschaftlich vor einer enorm schwierigen Zukunft steht. «Das Sanktionsregime oder vielmehr der Krieg berauben das Land seiner Zukunft. Sie werden Russland um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückwerfen», schreibt Matweew. Solche Einschätzungen kommen bei der russischen Regierung nicht gut an. Matweew hat seine Heimat deshalb verlassen und gibt seinen derzeitigen Aufenthaltsort nicht preis.

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Arbeitslosigkeit bald bei sieben Prozent?

Die fehlenden Bauteile aus dem Westen sind für Russland ein riesiges Problem: Die dortige Industrie ist enorm auf Bestandteile aus dem Ausland angewiesen. Weil diese fehlen, stehen praktisch alle Autofabriken still. Und auch die Produktion von Kühlschränken oder Waschmaschinen hat sich im Juni mehr als halbiert, wie eine Statistik des russischen Staates zeigt. Der Export von Stahl ist gegenüber dem Vorjahr um knapp 30 Prozent gesunken und die Schnittholzproduktion gar um 80 Prozent tiefer. In wichtigen Industrieregionen ist die Gesamtproduktion seit dem Angriff auf die Ukraine deutlich zurückgegangen, in der Region Moskau um 16 Prozent, in Kaluga gar um 25 Prozent.

Trotzdem weist Russland für den Monat Juli eine Arbeitslosigkeit von gerade mal 3,9 Prozent aus – das ist ein historischer Tiefstand. Und auch das Bruttoinlandprodukt (BIP) dürfte in diesem Jahr nur um vier bis sechs Prozent sinken – also deutlich weniger stark als vor Monaten angenommen. Doch die beiden Zahlen täuschen, denn die Arbeitslosigkeit und das BIP reagieren verzögert.

Viele ausländische Firmen – die in Russland schätzungsweise sechs bis acht Millionen Arbeitskräfte beschäftigen – haben ihre Angestellten weiterhin bezahlt. Doch die Unternehmen ziehen sich laufend zurück. «Andere westliche Firmen wie etwa McDonald's oder Starbucks wurden wiederum von den Russen übernommen», sagt Vasili Astrow. Trotzdem dürfte die Arbeitslosigkeit bis Ende Jahr auf sieben Prozent ansteigen.

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Rückständige Technologien

Und auch die russische Wirtschaft dürfte, wie von vielen Experten erwartet, im nächsten Jahr deutlich schrumpfen. Prognosen sind schwierig, vor allem auch, weil die von Russland publizierten Zahlen mit grosser Vorsicht zu geniessen sind. Für Juli weist das Land gar ein leichtes Wachstum von 0,6 Prozent aus, das aber von Experten angezweifelt wird. Denn die Materiallager der Firmen leeren sich immer mehr.

Die russischen Exporte sind eingebrochen, und die Firmen verdienen mit dem überbewerteten Rubel im Ausland deutlich weniger Geld. Mittlerweile nehmen auch die für Russland so wichtigen Einnahmen aus Gas und Öl ab. In den ersten sieben Monaten des Jahres erzielte Russland noch einen Leistungsbilanzüberschuss von knapp 7,7 Milliarden Franken. Doch nun hat der Wind gedreht. Im August hat das Land im Ausland 5,5 Milliarden mehr ausgegeben als eingenommen.

Die grosse Abhängigkeit Russlands von den Öl- und Gaseinnahmen wird in Zukunft zum Problem: Der Westen wird die Importe aus Russland einstellen, und die übrige Industrie ist zu wenig wettbewerbsfähig. «Russland hat in vielen Bereichen vor allem bei Hightech oder in der Pharmabranche kein oder kaum Know-how. Importe aus China werden nur teilweise eine Abfederung darstellen», sagt Astrow. Dem Land laufen auch die Fachspezialisten davon, was die Situation weiter verschärfen wird – vorausgesetzt, die Grenzen bleiben offen. Pessimistische Prognosen gehen deshalb sogar davon aus, dass der russische Staat in den nächsten Jahren gar in einen Bankrott laufen könnte.

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