Diese Woche ist die Frist abgelaufen. Bis Freitag konnten die Parteien das Urteil im Jahrhundertprozess gegen Pierin Vincenz und seinen Kompagnon Beat Stocker sowie weitere Beschuldigte an die nächste Instanz, das Zürcher Obergericht, weiterziehen. Die Frist von 20 Tagen nach Erhalt der schriftlichen Begründung des Urteils ist verstrichen.
Nach dem mehrwöchigen Gerichtsverfahren, das aus Platzgründen ins Zürcher Volkshaus verlegt wurde, verurteilte der vorsitzende Richter Sebastian Aeppli den ehemaligen Raiffeisen-Chef und seinen Berater zu Haftstrafen von drei Jahren und neun Monaten sowie vier Jahren. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie sich unter anderem des Betrugs, der ungetreuen Geschäftsbesorgung und der mehrfachen passiven Privatbestechung schuldig gemacht hatten.
Das Gericht ist weitgehend den Strafanträgen der Anklage gefolgt – was eigentlich ein grosser Erfolg für Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel und sein Team ist. Und doch zieht die Staatsanwaltschaft das Urteil weiter, wie ein Sprecher bestätigt: «Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat das Urteil des Bezirksgerichts Zürich im Strafverfahren gegen frühere Organe von Aduno und Raiffeisen und weitere Personen mit Berufung angefochten, soweit das Bezirksgericht nicht ihren Anträgen gefolgt ist.» Weitere Auskünfte lehnt die Behörde mit Verweis auf das laufende Verfahren ab.
Einen Strafrabatt für Prominente?
Wie aus Justizkreisen zu hören ist, missfällt den Anklägern, dass das Gericht aufgrund der «besonders ausgiebigen Medienkampagne», wie es im schriftlichen Urteil heisst, das Strafmass im Fall von Pierin Vincenz von 54 auf 45 Monate Haft gesenkt hat. Auch die Geldstrafe wurde wegen der «tendenziösen Medienberichterstattung» um 50 auf 280 Tagessätze reduziert. Auch Beat Stocker, über den deutlich weniger oft berichtet wurde, erhielt wegen der Medienberichterstattung einen Strafrabatt von zehn Prozent, wie im Urteil nachzulesen ist.
Dass die Staatsanwaltschaft mit dieser Sichtweise nicht einverstanden ist, scheint nachvollziehbar. Denn bei Pierin Vincenz handelt es sich um eine sehr bekannte Persönlichkeit in der Schweiz. Es ist klar, dass dieser Umstand eine Berichterstattung begünstigt. Weniger klar ist hingegen, warum eine bekannte Person von einem Gericht wegen ihres Prominentenstatus einen Rabatt bekommen sollte. Umgekehrt würde das heissen, dass unbekannte Beschuldigte einen Malus erhielten. Weil über sie nicht berichtet wird, müssen sie länger ins Gefängnis oder eine höhere Busse bezahlen als Prominente.
Viseca und Raiffeisen wollen Geld sehen
Auch die Hauptbeschuldigten Vincenz und Stocker dürften das Urteil weiterziehen, wenn auch aus anderen Gründen. Sie und weitere Beschuldigte verlangen nichts weniger als einen Freispruch und sind offenbar bereit, bis vor Bundesgericht zu gehen. Was sie sich von einem Weiterzug konkret erhoffen, darüber war von Beat Stocker und vom Anwalt von Pierin Vincenz nichts zu erfahren. Sie liessen Anfragen unbeantwortet.
Doch wie sieht es bei den geschädigten Unternehmen aus? Also bei Raiffeisen und vor allem der Aduno, die heute Viseca heisst. Diese war es, die den Fall Vincenz überhaupt ins Rollen gebracht hatte, indem sie Befunden aus einem Finma-Verfahren nachgegangen war und eine umfassende Strafanzeige in Zusammenhang mit drei Firmentransaktionen eingereicht hatte.
Ein Sprecher von Viseca sagt, das Unternehmen sei zwar «mit Bezug auf die Verurteilung und den Schadenersatz bei der Transaktion Commtrain einverstanden». Nicht einverstanden ist Viseca hingegen «mit diversen Freisprüchen bei den Transaktionen GCL und Eurokaution sowie mit dem Entscheid zum Schadensersatz bei der Transaktion GCL».
Ein zentraler Punkt dürfte sein, dass in der Anklageschrift die Schadenssummen exakt beziffert werden. Im Fall der Commtrain-Transaktion wurde der Schaden auf 2,7 Millionen Franken festgesetzt. Im Fall der GCL-Transaktion beträgt er gemäss Anklage 9,1 Millionen.
Das Gericht bestätigte hingegen nur den Schaden in Zusammenhang mit Commtrain. Bei GCL tut es das nicht. Es stellt im Grundsatz zwar eine Schadenersatzpflicht fest, verweist aber für die Festlegung der Höhe auf den Zivilweg. Die Ungleichbehandlung der beiden Fälle scheint für Viseca nicht schlüssig begründet. Die Anwälte des Unternehmens wollen offenbar genau bei diesem Punkt einhaken.
Die Genossenschaftsbank gibt sich zugeknöpft
Ähnliche Beweggründe bei ihrem Rekurs hat auch Raiffeisen. Sie trägt durch die Investnet-Transaktion den grössten finanziellen Schaden davon. Er dürfte inklusive Zinsen bei 50 Millionen Franken liegen. Auch hier stellt das Gericht im Grundsatz eine Schadenersatzpflicht fest, verzichtet aber auf die Festlegung der konkreten Summe.
Die Genossenschaftsbank gibt sich auf Anfrage zugeknöpft. «Zum laufenden Verfahren äussert sich Raiffeisen Schweiz nicht», tönt es aus der Zentrale in St. Gallen. Doch über Umwege lässt sich dennoch in Erfahrung bringen, dass auch die Raiffeisen-Bank nicht zufrieden ist mit dem Resultat.
Gemäss dem erstinstanzlichen Urteil müsste Vincenz seinem ehemaligen Arbeitgeber wegen seiner Spesengeschichten nur gerade 300’000 Franken zurückzahlen. Damit will sich die Bank nicht abspeisen lassen.
Raiffeisen und Viseca wollen am Obergericht erreichen, dass die hohen Millionenforderungen gegenüber Vincenz, Stocker und weiteren Beschuldigten von den Richtern bestätigt werden.
Wann es zur Prozesseröffnung kommt, ist noch völlig offen. Wenn das Obergericht schnell arbeitet, könnte es im Herbst 2023 losgehen. Nimmt es sich Zeit, wird es ein Jahr später.
*Der Journalist Beat Schmid (54) schreibt im SonntagsBlick über Finanzthemen. Er ist Herausgeber des Onlinemediums tippinpoint.ch