Gewinnmaximierung und Lohnerhöhungen
Der Mythos Raiffeisen ist Geschichte

In der Ära Vincenz stiegen die Löhne um mehr als 50 Prozent, der Gewinn hat sich nahezu verdreifacht. Die «andere Bank», wie sich Raiffeisen gern selbst betitelt, ist normal geworden.
Publiziert: 03.03.2018 um 23:48 Uhr
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Aktualisiert: 14.01.2023 um 16:07 Uhr
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Freitagabend in Marbach im St. Galler Rheintal: Rund 300 Genossenschafter der lokalen Raiffeisenbank strömen in die Mehrzweckhalle Amtacker. An den Wänden hängen Basketballkörbe, an der Sprossenwand ein Raiffeisen-Banner.
Foto: Philippe Rossier
Thomas Schlittler

Freitagabend in Marbach im St. Galler Rheintal: Rund 300 Genossenschafter der lokalen Raiffeisenbank strömen in die Mehrzweckhalle Amtacker. An den Wänden Basketballkörbe, an der Sprossenwand ein Raiffeisen-Banner.

Die Gäste kommen in Jeans, Pulli oder Bluse. Richtig chic sind nur die Mitarbeiter. Sie begrüssen jeden Gast persönlich und überreichen eine kleine Geschenkbox mit Schweizer Traditionsprodukten: Basler Läckerli, Kambly-Guetsli, Ragusa.
Nichts deutet darauf hin, dass der Mann, der die Raiffeisen-Gruppe gross gemacht hat, in Untersuchungshaft sitzt und von der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich der ungetreuen Geschäftsbesorgung beschuldigt wird.
«Das betrifft uns nicht direkt», erklärt Genossenschafter Leo Seitz (71). Schliesslich sei Pierin Vincenz (61) nicht mehr Raiffeisen-Chef. «Aber es ist halt einfach schade, weil man einmal mehr das Gefühl hat, dass die da ganz oben alle Dreck am Stecken haben.»

Wie Seitz sehen es die meisten Genossenschafter, die SonntagsBlick auf die Affäre anspricht: Sie sind überrascht und enttäuscht, machen aber einen klaren Unterschied zwischen Vincenz und ihren Raiffeisen-Mitarbeitern in Marbach. Allgemeiner Tenor: «Die Köpfe hier auf der Bühne kennen wir. Und ihnen vertrauen wir nach wie vor.»

Keine einzige Wortmeldung

Roger Kluser, Verwaltungsratspräsident der Raiffeisenbank Marbach-Rebstein, fühlt sich dennoch zu ein paar beruhigenden Worten gezwungen: «Raiffeisen drängt auf lückenlose Aufklärung. Aber das Kundengeschäft ist in keinster Weise betroffen von den Vorgängen.» Kluser ruft in Erinnerung, dass für Vincenz nach wie vor die Unschuldsvermutung gelte. Und hält fest: «Raiffeisen wäre ohne Pierin Vincenz nicht da, wo wir heute sind!»

Aus dem Publikum kommt dazu keine einzige Wortmeldung. Alle scheinen zu warten, bis endlich der zahlenlastige Teil der Generalversammlung vorüber ist und sie die Dividende ihres Genossenschaftsanteils vorgesetzt bekommen: Fleischvogel mit Kartoffelstock und Gemüse.

So genügsam wie die Genossenschafter in Marbach sind bei Raiffeisen längst nicht alle. Ein paar Stunden zuvor hat Vincenz-Nachfolger Patrik Gisel (55) die Jahreszahlen der Gruppe im Luxushotel Park Hyatt präsentiert – eine Tramhaltestelle vom Zürcher Paradeplatz entfernt. Die geografische Nähe zu UBS und Credit Suisse ist kein Zufall. Raiffeisen hat sich auch sonst den Grossbanken angenähert. Geisselte man früher an den Generalversammlungen gerne Gewinnstreben, Löhne und Boni der Grossbanker, hat man in diesen Bereichen kräftig aufgeholt.

Was würde der Gründervater davon halten

917 Millionen Franken verdiente die Raiffeisen-Gruppe im vergangenen Jahr. «Das ist der höchste je realisierte Reingewinn», frohlockte CEO Gisel. «Damit haben wir unseren Gewinn um sagenhafte 29 Prozent gesteigert!»
Das Raiffeisen-Vokabular von heute unterscheidet sich kaum noch von dem anderer Banken. Doch es gibt einen Unterschied: Raiffeisen ist Genossenschaftsbank, Rekordgewinne sollten deshalb nicht oberste Priorität haben. Laut Statuten ist der wichtigste Zweck der Genossenschaft die «gemeinsame Selbsthilfe» sowie die «Verbreitung und Vertiefung des genossenschaftlichen Gedankengutes von Friedrich Wilhelm Raiffeisen».
Was würde der Gründervater wohl von der Jagd nach Rekordgewinnen halten? Bedeutet die immer grössere Rendite nicht, dass von den Genossenschaftern zu viel Geld abgeschöpft wird?

Wieso werden der «gemeinsamen Selbsthilfe» zuliebe nicht Kontoführungsgebühren gesenkt und Sparzinsen erhöht? Und wie lassen sich die 389 Standortschliessungen rechtfertigen, die seit Vincenz’ Machtübernahme im Jahre 1999 beschlossen wurden? Folgten sie nicht einzig marktwirtschaftlichen Überlegungen, also dem Streben nach mehr Gewinn?

Raiffeisen-Chef Gisel sieht die hohen Gewinne völlig unproblematisch: «Das Geld bleibt ja innerhalb der Genossenschaft. Wir bilden damit Reserven und erhöhen unser Eigenkapital. Und mehr Eigenkapital bedeutet mehr Sicherheit.»
Auch Mediensprecherin Angela Rupp findet, es sei aus Sicht der Genossenschafter wünschenswert, wenn Raiffeisen solche Gewinne erziele. «Zudem gewährt Raiffeisen weiterhin spezielle Mitglieder-Zinskonditionen, andere Vergünstigungen und interessante Angebote.»

Eine Bank wie jede andere

Doch die Verdreifachung des Gewinns ist nicht das Einzige, was auffällt, wenn man die Raiffeisen-Kennzahlen von 1999 bis heute studiert: Auffällig ist auch die Lohnentwicklung.

Vor der Jahrtausendwende lag der Personalaufwand pro Vollzeitstelle bei etwa 94'000 Franken im Jahr. 2017 kostete ein Raiffeisen-Angestellter im Schnitt 148'000 Franken. 57 Prozent mehr – ein stolzer Anstieg!
Dazu Sprecherin Rupp: «Es ist richtig, dass der durchschnittliche Personalaufwand pro Vollzeitstelle bei Raiffeisen in den letzten Jahren zugenommen hat. Dieser Effekt lässt sich jedoch in der gesamten Bankenbranche feststellen.» Das liege unter anderem an der zunehmenden Spezialisierung der Mitarbeiter.

Im Klartext soll das wohl heissen: Sorry, wir sind halt eine Bank wie jede andere. Und müssen deshalb auch wie alle die Löhne erhöhen. Die Zeiten der «anderen», sprich besseren Bank sind offenbar vorbei.

Zurück zur Generalversammlung in Marbach. Linus Spirig wird in den Ruhestand verabschiedet. Er war 30 Jahre lang Bankleiter und hat seine Raiffeisenbank zu dem gemacht, was sie heute ist – der Pierin Vincenz von Marbach sozusagen. Der Unterschied: Er wird mit minutenlangem Applaus verabschiedet und nicht mit Untersuchungshaft. Zumindest in der Mehrzweckhalle in Marbach ist die Raiffeisen-Welt noch in Ordnung.

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